Tagebuch

Festivaltagebuch, Freitag und Samstag

Wie Tag und Nacht – Das Wochenende beim filmPOLSKA

Freitag, 25. April 2014 – Kino Arsenal am Potsdamer Platz

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Nachdem am Donnerstag Schwimmende Wolkenkratzer zu sehen war, steht mit Das Geheimnis (Sekret, 2013) heute der zweite Film auf dem Programm, bei dem Jakub Kijowski hinter der Kamera stand. Da diesmal ein Übersetzer fehlt, springt spontan eine Dame aus dem Publikum beim Gespräch mit dem jungen polnischen Kameramann ein. Der steht gewohnt schüchtern, aber höchst sympathisch Rede und Antwort.

In Das Geheimnis besucht die Drag-Queen Ksawery mit einer jüdischen Freundin den Großvater. Der hütet ein mörderisches Geheimnis aus der Zeit des Holocaust. Ungesühnte Schuld, verdrängte Gefühle, Unterbewusstes und Unausgesprochenes, das unter der Oberfläche brodelt und immer wieder zu emotionalen Entladungen zwischen den Dreien führt. Thematisch kommt Das Geheimnis schwer daher. Nach vier Tagen filmPOLSKA und etlichen Publikumsgesprächen übernehme ich deren Konsens, solch eine pessimistische Grundstimmung sei typisch für den polnischen Film. Und weil Schubladen manchmal so schön sind. Seine Zugehörigkeit zum Arthouse-Kino mit Hang zum Experimentalfilm macht seine Rezeption nicht unbedingt angenehmer.

Da kommt die Festivalparty doch gerade recht, um die Kontroversen des Films bei einem Glas Wein und sommerlichen Temperaturen im wunderschönen Innenhof des AckerStadtPalasts zu diskutieren.

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Ganz anders dann: Das Mädchen aus dem Schrank (Dziewczyna z szafy, 2014). Schon die lockere Art  des Regisseurs Bodo Kox  lässt auf filmische Unterhaltung hoffen. Wie Przemysław Wojcieszek in Das Geheimnis bedient sich Kox in seiner bisher größten Kino-Produktion ebenso häufig filmischer Kunstgriffe. Doch anstatt lehrbuchhafter Schwerfälligkeit zu liefern, gelingt es ihm spielerisch die Faszination des frühen Kinos für exotische Orte und magische Welten in uns zu wecken.

 

Jacek lebt zusammen mit seinem autistischen Bruder Tomek. Der sieht Zeppeline am Himmel fliegen und verliebt sich in die stille Magda, die ein nicht weniger merkwürdiges Sozialverhalten an den Tag legt. Rauchend zieht sie sich stundenlang in ihren Schrank zurück, wo eine subtropische Welt mit weißem Hasen auf sie wartet. Beide verstehen sich sofort auch ohne Worte. Anstatt Behinderung als Problem in Szene zu setzen, wird sie in Das Mädchen aus dem Schrank als schrullige Charaktereigenschaft akzeptiert. Für den Zuschauer bedeutet das jede Menge Situationskomik und schwarzen Humor gepaart mit einer Prise Gesellschaftskritik. Die Achtung vor seinen Figuren verliert der Film dabei jedoch nie. Für mich, der beste Film des Festivals bis hier hin.

Mit seiner Hauptdarstellerin Magdalena Różańska wird in dem anschließenden Gespräch dann angeregt zwischen Polnisch, Deutsch, Englisch und Französisch hin- und hergewechselt. Mit Bodo Kox, der im Gespräch mindestens genauso humorvoll und unterhaltsam ist wie sein Film, gibt es am Sonntag noch einmal die Gelegenheit im Club der Polnischen Versager seine früheren Underground-Produktionen zu sehen und über das Off-Kino zu plaudern.

 

Text: Nina Linkel

 

 

 

PL 2012; Regie/Drehbuch: Przemysław Wojcieszek

Kamera: Jakub Kijowski

Darsteller: Agnieszka PodsiadlikTomasz TyndykMarek Kępiński

 

Das Mädchen aus dem Schrank (Dziewczynaz szafy)

PL 2012; Regie/Drehbuch: Bodo Kox; Kamera: Arkadiusz Tomiak

Darsteller: Magdalena Różańska, Piotr Głowacki, Wojciech MecwaldowskiEryk Lubos

 

 

Zum Scheitern verurteilt

 

Potsdamer Platz:Zweiter filmPOLSKA-Tag, Kino Arsenal

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Mit „Schwimmende Wolkenkratzer“ („Plynace wiezowce“) von Tomasz Wasilewski wird heute eines der Highlights des diesjährigen Festivals gezeigt, ein Film über Selbstfindung, Liebe und Verdrängung.Leistungsschwimmer Kuba ist mit Sylwia zusammen und lebt mit ihr bei seiner Mutter Ewa. Alles zerrt an Kuba, der Sport, die Freundin, die Mutter. Dann verliebt er sich in Michal. Michal verliebt sich in ihn. Eine weitere Dreiecksbeziehung entsteht: Kuba, Michal und Sylwia. Man ahnt, das wird nicht gut gehen.

Tomasz Wasilewski hat mehr als einen Coming-Out Film gedreht. Den Film nur in diese Kategorie zu stecken, wird ihm aber nicht gerecht. „Der Film ist ein Psychodrama mit Coming-Out.“, sagt Kameramann Jakub Kijowski beim Publikumsgesrpräch nach der Vorführung.
Kurz bevor im Kino das Licht wieder angeht, fällt ein Name in den Credits auf: Katarzyna Roslaniec. Hier spielt sie nur eine kleine Nebenrolle, doch eigentlich ist sie ein großes Regietalent. Mit „Shopping Girls“ und „Bejbie Blues“ hat sie sich international darunter auch Berlinale und filmPOLSKA einen Namen gemacht.
Kameramann Kijowski, Anfang 30, ist schüchtern vor dem Publikum im Arsenal. Eigentlich braucht er es nicht sein, der Saal ist mit knapp 30 Leuten nur spärlich besetzt. Auf dem Festival wird er sich solchen Gesprächen noch öfter stellen müssen. Für das „Das Geheimnis“ stand er auch hinter der Kamera. In „Schwimmende Wolkenkratzer“ hat Kijowski herausragende Arbeit geleistet. Seine Bilder, größtenteils Nachtaufnahmen, schaffen es, die graue Betonarchitektur Warschaus zum Leben zu erwecken. Kamerafahrten durch Tunnel und Parkhäuser sind Momentaufnahmen von Urbanität. Sie sind poetisch, mal traurig, mal radikal entblößend.

Im Foyer des Arsenals warten gefüllte Weingläser auf die Festivalbesucher. Sie haben die Wahl: Nach Hause gehen, Wein trinken oder eine thematische 180° Wende machen und in „Fuck for Forest“ im FSK gehen. Die meisten bleiben beim Wein.

 

Trailer

 

Text: Laura Varriale



„Kino ist Mut. Kino ist Kultur“
 
Kurator Kornel Miglus
Fotograf: Jakub Swietlik

 

 

 

9. Ausgabe –  9 Tage – 9 Spielstätten
2014 geht das Festival FilmPOLSKA bereits in seine neunte Runde. Veranstaltet vom polnischen Institut Berlin, zeigt es einen Querschnitt durch die nationale Kinolandschaft. Neben einer Kurz- und Dokumentarfilmreihe setzt das vielfältige Programm vor allem Akzente auf zeitgenössischen polnischen Autorenfilm sowie Kamerakunst im Rahmen einer Werkschau der beiden Kameramänner Jacek Petrycki und Jakub Kijowski. Neben einer Retrospektive der Literaturverfilmungen der Werke von Stanislaw Lem bietet das Festival auch eine Plattform für junge Werke nationaler Filmhochschulen, nationales Off-Kino sowie Animation.
 
Fotograf: Jakub Swietlik
Minderheit – Musik – Meister
Eröffnet wurde das Festival am Mittwochabend  im Babylon mit dem Arthouse-Film des Regisseur-Duos Joanna Kos-Krauze und Krzysztof KrauzeEmblematisch für den diesjährigen thematischen Schwerpunkt, der neben „Musik“ und „Meister der Film- und Erzählkunst“ auf „Minderheiten“ liegt, erzählt Papusza (Puppe) vom Leben der gleichnamigen Roma-Poetin, die aufgrund der Publikation ihrer Werke von ihrer Sippe ausgeschlossen wird. In Zeitsprüngen und ausgehend von ihrer Biografie gibt der Film darüber hinaus einen Abriss der Geschichte des 20. Jahrhunderts der polnischen Roma. In Zusammenhang mit narrativen Auf- und Abblenden und ästhetisierenden Schwarz-Weiß Bildern reflektiert er auch formal über Fiktionalisierungsprozesse nationaler Geschichtsschreibung. Panoramaeinstellungen der endlosen Weite polnischer Landschaft evozieren eine vermeintliche Freiheit des fahrenden Lebensstils. Diese steht nicht nur im Kontrast zur räumlichen Enge ihrer späteren Behausungen, die ihnen von der Regierung aufgezwungen werden, sondern auch zum restriktiven traditionellen Gemeinschaftsleben.
 
Die Stärke des Films bleibt seine Universalität: Eine kluge Frau scheitert an den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit. Ein feinfühlig-künstlerisch erzählter Film, der Lust macht auf die folgenden Tage polnischer Kultur auf der Leinwand.

 

 

(Text: Nina Linkel)

Wer?


„Über Filme schreiben ist über die Welt schreiben“ – 2. deutsch-polnisches Programm für junge Journalisten_innen und Filmkritiker_innen, 22.-27. April 2015, Berlin

Lust am Film? Interesse an Polen?
Das Programm setzt sich aus einem 2-tägigen theoretischen und 4-tägigen praktischen Teil zusammen. Die Teilnehmenden bilden sich weiter in modernen Formen filmjournalistischen Handwerks (mit einem Fokus auf Print, Online und Radio), befassen sich mit den aktuellen Herausforderungen der filmjournalistischen Arbeit, diskutieren die Rolle der Medien für die Vermittlung deutsch-polnischer Filmkultur und informieren sich über das aktuelle polnische Kinogeschehen.
Während des praktischen Teils werden die Teilnehmenden eigene Text- oder Radio-Beiträge zu und über das polnische Filmfestivals filmpolska erstellen, die in verschiedenen Medien veröffentlicht werden. Das Journalistenprogramm bietet eine exzellente Gelegenheit, bestehendes Wissen zu vertiefen, neue Erfahrungen zu sammeln, Kontakte zu knüpfen und das eigene Portfolio zu erweitern. Die Arbeitssprache ist Deutsch. Die Teilnahme ist kostenlos.
Wer kann sich bewerben?
Der Workshop richtet sich an angehende Filmkritiker_innen und –journalisten_innen zwischen 20 und 30 Jahren, die Lust am Polnischen Kino und bereits (erste) Erfahrungen im Schreiben und Berichten über Filme in Print-, Onlinemedien oder im Radio haben und sie im Rahmen des Festivals filmpolska vertiefen möchten.
Bewerbung und weitere Informationen:
Bewerbung:                                     ausgefüllter Bewerbungsbogen und Arbeitsproben bis 29. März 2015 an
Kontakt:                                             medienworkshop(at)filmpolska.de oder Fax 030/ 24 75 81 30
Mehr Infos:                                      http://www.filmpolska.de
Ort:                                                      Polnisches Institut Berlin, Burgstraße 27 / 10178 Berlin
Referent_innen: Denis Demmerle, Knut Elstermann, Detlef Kuhlbrodt, Joanna Łapińska, Tim Thaler
Projektförderung: Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit
Was ist noch wichtig?
Ein eigener WLAN-fähigen Laptop. Sollte dieser nicht vorhanden sein, bitten wir im Vorfeld mit uns in Verbindung zu treten. Alle Teilnehmenden sollten während des gesamten Workshops Zeit haben und sich aktiv einbringen.
FilmPOLSKA – das größte polnische Filmfestival außerhalb Polens – wird seit 2006 vom Polnischen Institut Berlin veranstaltet. Jedes Jahr bieten mehr als 100 Filme an verschiedenen Spielorten in Berlin und Potsdam einen tiefgründigen Einblick in das polnische Filmschaffen. Gezeigt werden neueste Produktionen des vergangenen Jahres, darunter in Polen erfolgreiche aber auch weniger bekannte Filme polnischer Filmschaffender.




Und das war der Workshop im vergangenen Jahr!

Hi & Cześć,

hier schreiben für euch Raphael, Nina, Paulina, Agata, Oliwia, Laura, Deniz, Henning und Gila.

Wir sind der Medienworkshop des filmPOLSKA-Festivals. Vom 22. bis 26. April besuchen wir so viele Festival-Filme wie möglich, um darüber zu berichten, unsere Eindrücke und Meinung festzuhalten und Filmemacher zu befragen. Ganz nebenbei lernen wir auch noch etwas über das Handwerk des Filmkritik-Schreibens von Experten wie Jan Distelmeyer und Knut Elstermann.
Mit uns und an unseren Texten arbeitet Detlef Kuhlbrodt von der taz. Wer mag, kommt in der Burgstraße zur Galerie des polnischen Instituts und beobachtet täglich zwischen zwei und vier Uhr Nachmittags, wie unsere Köpfe in der Redaktionssitzung rauchen.

Schwimmende Wolkenkratzer / Płynące wieżowce

KINÓWKI.pl

Michał (Bartosz Gelner), ausgesprochen Micha-u-l mit einem kratzigen „ch“ – wie wenn Schweizer hochdeutsch sprechen oder Spanier „hello“ sagen – so heißt das Objekt der Begierde im zweiten Spielfilm des 34-jährigen polnischen Regisseurs Tomasz Wasilewski. Der Schönling gleicht Hurd Hatfield in Das Bildnis des Dorian Gray von 1945 und seine Anziehungskraft schöpft aus der gleichen Trickkiste: Kantiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, dunkle Augen, perfekter Seitenscheitel, ein wenig wie der idealisierte Westler in einem japanischen Manga. Seine blonde und blauäugige Kontrahentin namens Sylwia (Marta Nieradkiewicz) könnte ihrerseits Kalender-Girl sein und wird wie eine Trophäe von Leistungsschwimmer Jakub liebkost, der mit ihr und seiner Mutter in einer kleinen modernen Warschauer Wohnung wohnt. Doch Sylwias „Kuba“ verfällt entgegen allen Regeln und Zukunftsplänen dem Charme des hübschen Jünglings. Bei einer Vernissage sieht sie von Anfang an misstrauisch dabei zu, wie er sich Michał knabenhaft scherzend annähert. Später versucht sie ihn von einem überstürzten Wiedersehen abzuhalten, verbringt sogar ein bloßstellendes Camping-Wochenende mit beiden und will es doch nicht wahrhaben: Sie  glaubt weiterhin standhaft an die Übermacht des heterosexuellen Modells. Als alles auffliegt, das mütterliche „du kannst mir das nicht antun“ gefallen ist und Sylwia mit einer angeblichen Schwangerschaft ihren letzten Trumpf ausspielt, macht Jakub, was er am besten kann. Er taucht unter. Unter Wasser

In der Anfangsszene klingt die Tonkulisse der Unterwasseraufnahmen von Schwimmern herrlich dumpf und Bass-lastig. Eine ähnliche Atmosphäre versprühen auch die mit elektronischer Musik unterlegten nächtlichen Streifzüge der beiden Männer durch Warschau: In Slow Motion (sie sind von Marihuana benebelt) fahren sie wie im Kreis Etage für Etage in einem Parkhaus ab. Etwa in der Mitte des Films bleibt Jakub während eines Wettkampfs auf halber Strecke stehen. Der Ton wird zum Spiegel seines inneren Wandels. Man hört die Zuschauer am Rande des Beckens ihren Favoriten anfeuern. Die Geräusche der Außenwelt verstummen allmählich und als wäre die Verbindung zwischen ihm und der Gesellschaft, in der er sich bisher bewegte, gekappt worden, vernimmt man plötzlich nur noch sein lautes Ein- und Ausatmen.
Wasilewskis Verquickung von Sylwias stummen Leid, Jakubs introvertierter Verzweiflung und Michals offenerem Identitätskampf setzt den Zuschauer einem enormen psychologischen Druck aus. Selbst schwul und stark von dieser Geschichte betroffen, habe ich mich auch ein Tag nach der Sichtung nicht von diesem Film erholt.

Text: Raphaël Rück