Polnischer Dokumentarfilm: Ganz nah dran am Geschehen

An Dokumentarfilmen scheiden sich die Geister. Die einen genießen den Wegfall der Mauer aus Fiktion, für die anderen ist die reale Geschichte doch zu sehr durch die/den RegisseurIn gelenkt. Trotzdem ist es die realistischste Form des Films. Durch sie lernen wir die Welt ein Stück besser kennen, und sehen sie durch andere Augen. Das filmPOLSKA-Festival widmete diesem Genre eine eigene Reihe.

In Polen hat der Dokumentarfilm eine große Bedeutung. Große Namen wie Krzysztof Kieślowski und Kazimierz Karabasz starteten ihre Karriere in diesem Genre. In den polnischen Kinos war es bis in die 1980er Jahre sogar üblich, dass vor dem Hauptfilm ein Dokumentarfilm gezeigt wurde.

Die drei Dokumentationen, die beim diesjährigen filmPOLSKA-Festival gezeigt wurden, lassen sich wohl am besten unter dem Titel „Wandel” zusammenfassen. Die Kamera begleitet die Protagonisten dabei, wie sie wesentliche Veränderungen in ihrem Leben wie Altern, Geschlechtsumwandlung oder Ausbruch aus dem Milieu, meistern.

Wojciech Staroń dokumentiert in seinem Film „Brothers“ die Geschichte zweier Brüder, die im Alter von fast 90 Jahren aus Russland nach Polen zurückkehren. Der exzentrische Maler Alfons und der pragmatische Wissenschaftler Mieczysław Kułakowski beziehen ein Haus in einer polnischen Kleinstadt. Als Kinder wurden sie in ein sibirisches Gulag deportiert, lebten lange in Kasachstan und versuchen nun einen Neuanfang in Polen. Trotz ihres hohen Alters, wollen sie die Buntheit ihres Lebens nicht aufgeben. Alfons macht dafür immer noch täglich Gymnastik, um sich fit zu halten. Doch auch sie können den Fängen des Alters nicht entkommen. In ausdrucksstarken und poetischen Bildern porträtiert Staroń auf einfühlsame und unaufdringliche Weise das enge Band zwischen den Brüdern, das sich durch ihr ganzes Leben zog.

Noch am Anfang ihres Lebens steht Yula. Sie lebt mit ihrer Familie auf der größten Müllhalde Europas, nur 13 Meilen vom Kreml und dem Roten Platz entfernt. Kaum zu glauben, dass in diesem Dreck Menschen leben. Doch die Müllhalde ist Heimat für viele obdachlose Menschen. Ihre Geschichten erzählt die Regisseurin Hanna Polak in „Something Better to Come“. Besonders die von Yula, welche sie bei heimlichen Dreharbeiten in den Müllbergen kennenlernte. Über 14 Jahre begleitete Polak das Mädchen, zeigt ihr Erwachsenwerden und ihren Kampf ums Überleben. Dabei dokumentiert sie nicht nur das Elend der Menschen, sondern auch ganz alltägliche Szenen. Haare färben, Nägel lackieren oder die erste Liebe, das sind normale Themen im Leben eines jeden Teenagers. Es entstand ein anrührender und zugleich verstörender Film, mit dem es Polak gelingt, den Vergessenen und Ausgestoßenen der Gesellschaft eine Stimme zu geben.

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Ausgestoßen wurde auch Marianna. Früher einmal war Marianna Wojtek. Im Alter von 40 Jahren entscheidet sich Wojtek dazu, seine Frau und seine Kinder zu verlassen, um als Frau zu leben. Ein Schritt, der Konsequenzen hat. Nicht nur, dass sich fast ihr gesamtes Umfeld von ihr abwendet. Auch die bevorstehenden körperlichen Veränderungen sind eine große Herausforderung. Aber Marianna hat sich entschieden, sie will den Weg gehen, mit all seinen Konsequenzen und Rückschlägen. Die Filmemacherin Karolina Bielawska vermittelt dem Zuschauer in expressiven und sehr persönlichen Bildern, was einen Menschen dazu bringt, sein geordnetes Leben total aufzugeben um dem nachzuspüren, wer er sein will. Die Bilder wechseln zwischen harter Realität, melancholischen privaten Filmaufnahmen der 90er Jahre bis hin zu der liebevoll dargestellten Zerbrechlichkeit Mariannas.

Alle drei Filme geben uns einen Einblick in die ganz persönliche Lebenswelt von Menschen, die etwas abseits der gesellschaftlichen Normvorstellungen liegt. Sie lassen uns über den eigenen Tellerrand hinaus blicken und Dinge besser verstehen. Die einfühlsamen, poetischen Bildern dieser Dokumentationen berühren, und lassen uns eintauchen in eine andere Welt. Sie können dazu beitragen, dass die Menschen einander ein Stück weit besser verstehen.

 

Weitere Vorführung „Brothers“:

Dienstag, den 26. April um 20:15 Uhr im Babylon

 

Weitere Vorführungen „Call me Marianna“:

Dienstag, den 26. April um 20:30 Uhr im Babylon

Mittwoch, den 27. April um 20:00 Uhr im FSK

Retrospektive: „Moonlighting“

Ein Film über polnische Schwarzarbeiter im Ausland sollte es werden. Heraus kam ein Film, wie er zum Zeitpunkt des Erscheinens aktueller nicht hätte sein können. Wie so oft im Leben sind es Zufälle, die den Dingen eine besondere Wendung geben. So auch bei Jerzy Skolimowskis Film „Moonlighting“, der innerhalb der Retrospektive des filmPOLSKA Festivals gezeigt wurde.

Die Story des Films ist simpel: Anfang Dezember 1981. Vier Polen landen in London, nur der Vorarbeiter Nowak (Jeremy Irons) spricht Englisch. Sie haben den Auftrag, innerhalb eines Monats für einen Parteibonzen ein Haus zu renovieren. Kurz nach der Ankunft der Arbeiter in England wird in Polen das Kriegsrecht ausgerufen. Nowak beschließt, den anderen nichts von den politischen Vorgängen in der Heimat zu erzählen. Für den Vorarbeiter beginnt ein Spießrutenlauf. Die Baustelle muss fertig werden. Das Geld wird knapp. Und seit Wochen keine Verbindung zur Heimat, da die Telefonverbindung in die Volksrepublik gekappt wurden. Erst nachdem die Wohnung pünktlich zum 5. Januar fertiggestellt wird, sagt er seinen Arbeitern die Wahrheit.

Die Wahrheit verschweigen, um Andere zu schützen? Für Jerzy Skolimowski ein Thema, das ihn auch selbst betraf. Er lebte bereits einige Zeit im Londoner Exil, als er beim Brötchen holen auf eine Gruppe aufgeregter Polen stieß. In der Nacht zuvor hatte Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen, wodurch den Reisenden der Rückweg nach Polen versperrt war. Um sich für unbestimmte Zeit in ein Hotel einzumieten, fehlte das Geld; sie waren verzweifelt. Skolimowski begann, die Gestrandeten bei seinen polnischen Freunden unterzubringen. Als dort alle Plätze verteilt waren, suchte er im Telefonbuch nach polnischen Namen und fragte nach Unterkünften. Auch er nahm jemanden auf, Herrn Genio. Um ihn nicht zu beunruhigen, ertappte sich der Regisseur immer wieder selbst dabei, wie er die englischen Nachrichten in geschönter Weise ins Polnische übersetzte.

Als das geschah, hatten die Dreharbeiten für „Moonlighting“ bereits begonnen. Beeinflusst durch die eigenen Erlebnisse änderte Skolimowski das Drehbuch. Beim Filmfestival in Cannes 1982 konnte er schließlich einen absolut aktuellen Film präsentieren und wurde für sein Drehbuch ausgezeichnet. Einige Kritiker hielten den Film sogar für Skolimowskis bis dato bestes Werk.

Ein Film mit klaren Bildern, wenig Musik oder Dialogen. Er ist beklemmend und lässt die triste Situation der Arbeiter und den Zwiespalt Nowaks mitfühlen. Zwischendrin finden sich aber immer wieder komische Szenen, mit denen Skolimowski dem Film eine ganz eigene Dynamik gibt.

 

„Magic Mountain“: Der Ritter der Ideale

Polen, Frankreich, Afghanistan. Eine ungewöhnliche Kombination, diese Länder. Doch sie spielen alle eine große Rolle im Leben von Adam Jacek Winkler. Über sein Leben und seine Abenteuer erzählt der Film „Magic Mountain“ von der rumänischen Regisseurin Anca Damian. In Zusammenarbeit mit den Produzenten Włodzimierz Matuszewski aus Polen und Guillaume De Seille aus Frankreich, erzählt sie die Geschichte des Künstlers, Bergsteigers, Journalisten und Oppositionellen Adam Jacek Winkler.

So facettenreich wie das Leben Winklers ist auch der Film gestaltet. Verschiedenste Techniken werden eingesetzt, um die unterschiedlichen Lebensstationen des Protagonisten zu veranschaulichen. Heraus kommt eine berührende Animadok. Anca Damian kombiniert in dem für sie typischen Stil die originalen Fotos, Zeichnungen, Texte und Filmsequenzen Winklers mit verschiedensten Animationstechniken wie Collagen, Wasserfarben, Kohlezeichnungen, animierten Fotografien oder Mosaike.

Wir Zuschauer haben Teil an der Geschichte, die der Vater seiner Tochter Ania erzählt. Seine Geschichte – eine Geschichte voller Lebensfreude und Optimismus, aber auch von Zerrissenheit und Fremdheit. Von der Flucht aus Polen Ende der 60er Jahre, um den Fängen der Roten Armee zu entkommen. Ein Pappmännchen im Zug, koloriert in tristen Wasserfarben, in der Gewissheit, die Heimat nie wieder zu sehen. Angekommen in einem Paris, das außer trostlosen Bildern wenig für ihn bereit hält. Doch seine Bemühungen gegen den kommunistischen Terror treiben ihn an. Als die sowjetische Armee 1979 in Afghanistan einmarschiert, solidarisiert er sich mit dem Volk. Auf dem Mont Blanc hisst er eine Fahne, auf der er Solidarität für die Menschen in Afghanistan fordert.

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Später beschließt er, sich der Armee in Afghanistan im Kampf gegen die Sowjets anzuschließen. In bunten Farben und mit dem Einfluss von afghanischen Mustern und Symbolen wird sein schwieriger Weg nach Kabul und schließlich bis in die afghanische Armee illustriert. Doch er findet Akzeptanz und kämpft in den afghanischen Bergen an der Seite von Ahmad Schah Massoud. Fotos, Filmfragmente, Wachszeichnungen, Wasserfarben – sie alle verschmelzen zu einem berührenden Bericht über die anstrengende, entbehrungsreiche und angsterfüllte Zeit im Gebirge. Aber sie zeigen auch eine andere Seite – die Magie der Berge. Hier fand Winkler Anerkennung, war kein Fremder und Außenseiter mehr – er wurde zum Bruder. Trotz der unmenschlichen Umstände wollte er nicht weg, betont der Erzähler, „I just wanted to be with them“. Es gab seinem Leben Sinn, endlich konnte er das sein, was er sich schon so lange wünschte: ein Ritter mit einem Pferd. Im erbitterten Kampf gegen die rote Armee war er bereit sein Leben zu geben. Nur eines wollte Winkler nicht: umsonst sterben! Hier sieht man kurz die Szene aus Andrzej Wajdas „Asche und Diamant“ , in der sich der tragische Held Macjek verblutend an weißen Laken festklammert.

Adam Winkler überlebt – doch die Jahre des Krieges haben ihn gezeichnet. Wir Zuschauer sehen ihn als abgekämpftes schwarzes Männchen; die Tristesse und Einsamkeit ist greifbar. Seine Lebensgeister kehren mit der Erinnerung an das Versprechen, das er seiner Tochter Ania machte, zurück: Ich komme wieder und bringe dir ein Pferd mit! Ein Pferd, leuchtend aus tausenden Sternen läuft über den Himmel und verwandelt sich in Phoenix aus der Asche. Er kehrt zurück.

Ein einfühlsamer und berührender Film über einen der auszog im Kampf gegen die Rote Armee. Wunderschöne und eindrucksvolle Bilder schaffen es ohne viel Worte von den Abenteuern, Freuden und Ängsten eines unglaublich mannigfaltigen Menschen zu erzählen, der seinen Idealen folgte.

Weitere Vorführungen:

Freitag, 22. April um 20.30 Uhr im Babylon
Sonntag, 24.April um 20:00 Uhr im FSK