Auf der Jagd nach dem perfekten Bild

Reisen erweitert den Horizont, heißt es. Und wer möchte das nicht: Entspannt Neues entdecken und gut erholt mit einem Koffer voller neuer Eindrücke nach Hause zurückkehren? Auch die Protagonist*innen in Marta Wójtowicz-Wcisłos und Mateusz Romaszkans Film Tourists (OT: Turyści) haben ihre Koffer gepackt und sich auf große Reisen begeben. Als Marta Wójtowicz-Wcisłos, die lange als Reisebegleiterin arbeitete, private Erinnerungsvideos von den Teilnehmer*innen ihrer Reisen zugeschickt bekam, entstand die Idee zum Film. Hunderte Stunden Material wertete das Regieduo für den Film aus – eine Arbeit, die mehrere Jahre in Anspruch nahm. Wójtowicz-Wcisło und Romaszkan war es wichtig, die Reisenden nicht bloßzustellen – zu persönliche Aufnahmen fanden laut Regieduo keinen Eingang in den Film. Nicht die Reisenden selbst, sondern ihre Art zu reisen steht im Vordergrund des Films. Viele unterschiedliche Reisevideos von Amateur*innen reihen sich im Film aneinander und fügen sich zu einer großen Gesamtreise zusammen. Die Unterschiede zwischen den Reisen wurden im Film gezielt verwischt. Von der Chinesischen Mauer über Thailand und Indien geht es bis nach Afrika und Mittelamerika – und doch scheint eines überall gleich: Menschen tun alles für das perfekte Erinnerungsfoto.

„Nebel! So viel Nebel!“ jammert eine Touristin an der Chinesischen Mauer, doch der Reiseleiter sorgt schnell für Abhilfe: Er hält ein Poster der Chinesischen Mauer hoch, das alle Tourist*innen gierig abfotografieren, ohne sich auch nur im Geringsten dabei albern zu fühlen. Was zählt, sind die Bilder. „Hier muss irgendwo eine Sehenswürdigkeit sein, aber es sieht alles so ähnlich aus! Ich weiß gar nicht, was ich filmen soll!“, sagt eine Amateurfilmerin verzweifelt, während ein anderer Tourist sein Hotelzimmer in allen Einzelheiten abfilmt und die Erklärungen sicherheitshalber gleich mitliefert: „Hier ist das Klo und noch verschiedener anderer Scheiß!“

Dramaturgisch geschickt holt das Regieteam das Publikum beim weit gefassten Thema „Reisen“ ab und zieht uns mit humorvollen Szenen und tanzbaren Rhythmen in den Film, um dann – unterstützt durch düstere Musik – ernstere Töne anzuschlagen. Bringen uns die verwackelten Amateuraufnahmen in Kombination mit absurden Kommentaren zu Beginn noch zum Lachen, löst das Verhalten der Reisenden gegenüber den Menschen in den bereisten Ländern schon bald Fremdscham aus. „Da beten Moslems! Janusz, film sie! Schnell!“, fordert eine Frau ihren Mann an einer Stelle auf. „Ich dachte, ich müsste heute nichts mehr filmen“, seufzt der genervt.

Blitze und Auslösergeräusche werden zwischen Videoaufnahmen von Menschen geschnitten, die in Armut leben. Als ein Reisender einen Bettler filmt, sagt er dazu: „Unglaublich, dass es solche Orte auf der Welt gibt! Schaut euch diese Bettler an! Der ganze Müll… Es stinkt!“ Während er immer näher an die Gesichter der Bettler heranzoomt, fügt er noch hinzu: „Und diese Menschen leben hier! Ich bin schockiert!“ Die in ihrer Position herablassend wirkenden Reisenden degradieren dabei auch Kinder zu Objekten und fordern sie auf, für die Kamera ihr schönstes Lächeln zu zeigen – für eine Gegenleistung von ein paar Süßigkeiten.

Kulturen und Traditionen verkommen hier zur bloßen Show. Völlig deplatziert wirkt ein Tourist mit Kamera um den Hals inmitten einer Gruppe von vermeintlichen afrikanischen Dorfbewohner*innen, die für die Tourist*innen einen Tanz aufführen. Als der Reisebus durch einen Slum fährt, betteln die Reisenden den Reiseleiter an, Fotos machen zu dürfen. „Die Menschen hier mögen das nicht“, grummelt der Busfahrer, und Enttäuschung macht sich breit. „Wie süß!“ ruft ein Ehepaar in Asien aus, als ein kleines Mädchen auf einem Boot versucht, Muscheln und Ketten an die Tourist*innen zu verkaufen. Was für die Protagonist*innen zählt, ist das Foto. Wieder einmal.

Immer wieder regt Tourists zum Nachdenken an. Verhalten wir uns auf Reisen so anders als die Tourist*innen im Film? Wie kann man es besser machen? Liegt die Verantwortung nur bei den Reisenden oder auch bei den Reiseveranstalter*innen? Ist eine andere Art zu reisen möglich? Und haben immer bessere Handykameras und Apps wie Instagram unsere Art zu reisen verändert? Geht es nur noch um perfekte Bilder?

Gegen Ende des Films prägt sich dem Publikum eine Einstellung besonders ein. Von hinten sieht man die Köpfe der Tourist*innen im Bus. Dazu erklingt düstere Musik – die Melodie heißt „Wut“ und stammt laut dem Regieduo aus dem Mittelalter. Der Reisebus bewegt sich als abgeschotteter Ort durch verschiedenste Regionen dieser Welt und seine Insass*innen verlassen den Bus gedanklich nicht. Sie wollen Entdecker*innen sein, andere Länder und Kulturen kennenlernen – und bleiben doch immer gefangen in ihrer eigenen Welt.

von Stefanie Borowsky

Turyści: PL 2017, 72 Min., R: Marta Wójtowicz-Wcisło, Mateusz Romaszkan

Moshe, Michał, Mike, Mischa

Wer war Michał Waszyński? Dieser Frage geht der Dokumentarfilm von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski nach. Collagenhaft fügen sie Szenen aus Waszyńskis Filmen und Gespräche mit Zeitzeugen aus Polen, der Ukraine, Israel, Italien und Spanien zusammen, die durch Tagebucheinträge des polnischen Regisseurs ergänzt werden. Nach und nach kommen neue Puzzleteile hinzu und eröffnen damit immer neue Blicke auf einen Menschen, der verschiedene Leben in mehreren Ländern und mit unterschiedlichen Identitäten führte.

1904 wurde Michał Waszyński als Moshe Waks im polnischen Kowel, das heute in der Ukraine liegt, als Sohn eines jüdischen Schmieds geboren. In Warschau änderte Waks seinen Namen in Michał Waszyński und konvertierte zum Katholizismus. Dort arbeitete er als Schauspieler und Regieassistent und drehte 1929 seinen ersten Film. 1937 drehte er Der Dybbuk, einen bedeutenden jiddischen Film über eine alte jüdische Legende: Eine Frau wird vom Geist einer unerwiderten Liebe heimgesucht. Sequenzen dieses Films werden immer wieder in den Film Der Prinz und der Dybbuk montiert. Zusammen mit Waszyńskis Tagebucheinträgen, die eine Stimme aus dem Off spricht, ermöglichen sie einen Einblick in das Seelenleben eines unglücklichen Mannes mit vielen Gesichtern. Immer wieder holte Michał Waszyński seine jüdische Vergangenheit in seinen Träumen ein.

Stück für Stück kommt Moshe, Michał, Mike oder Mischa dem Publikum näher und bleibt doch immer rätselhaft. Zeitzeugen erinnern sich – oft mit einem Augenzwinkern – daran, dass Waszyński sich als polnischer Prinz ausgab, eine reiche, alte italienische Gräfin heiratete und homosexuell war, dies aber nur im Verborgenen auslebte. Waszyńskis Chauffeur erzählt, der Regisseur habe in einer Traumwelt gelebt, und ein Graphologe meint, anhand von Waszyńskis Handschrift erkennen zu können, dass er Mythomane gewesen sei – jemand, dem es schwerfällt, Realität und Imagination auseinanderzuhalten. Waszyński, der in Spanien und Italien als Regisseur und Produzent von mehr als 40 Filmen arbeitete, starb 1965 in Italien an den Folgen eines Herzinfarktes.

„Es tut gut, nicht zu wissen, wer ich bin“, sagte Waszyński einmal. Der Satz könnte als Motto für diesen Film stehen, der nur eine Annäherung an einen Mann sein kann, der seine Spuren verwischen wollte. Letztendlich bleibt Michal Waszyński nicht nur im Leben, sondern auch im Film ein Geheimnis, das sich nicht ergründen lässt.

von Stefanie Borowsky

Der Prinz und der Dybbuk: PL/D 2017, 82 Min., R: Elwira Niewiera, Piotr Rosołowski