„I think this is the beginning of a beautiful friendship.”

Am Freitag, den 04.08.2017, erwarte ich Spannung den Polski Bus, der mich vom Flughafen Berlin-Schönefeld nach Wrocław bringen wird. Eine gute halbe Stunde nach Abfahrtszeit ohne Ansage oder Anzeigestaffel bin schon etwas nervös. Der Bus startet doch erst an der ZOB, mmmh… der Stadtverkehr geht mir durch den Kopf. Der rote Bus fährt endlich auf den Parkplatz ein. Hektisch steigt der Busfahrer aus, entschuldigt sich vielmals bei den umher stehenden Fahrgästen und schließt die Tür hinter sich. Aus der mittleren Tür kommen immer Leute heraus, und bitten den Busfahrer darum kurz ins Flughafen Gebäude gehen zu dürfen. Gestresst willigt er ein. Als ich versuche in den Bus einzusteigen und werde freundlich aber bestimmt ermahnt mein Gepäck mit einer runden Band mit einer Nummer zu umwickeln und die draußen zu warten bis das Gepäck eingeladen ist. Der Busfahrer lädt ordentlich und System einzeln jedes Gepäckstück selber ein. Jetzt wird mir klar: Nein, am frühen Nachmittag gibt es keinen Stadtverkehr.

Rynekschild

Im Gebäude des alten Bahnhof Wrocław Świebodzki ist mein Hostel mit dem Namen „Locomotive“. Der Gastgeber Michał ist ein freundlicher Mann Anfang fünfzig mit einen herzlichen Lächeln. Er zeigt mir ausführlich die Räumlichkeiten und bringt mich in meinen Schlafsaal, in dem acht Betten stehen und keines besetzt ist. Ich wähle ein Bett neben den drei bis vier Meter hohen Fenstern. Der Raum ist bestimmt 5 Meter hoch. Vom Fenster aus sehe ich über die alten Bahnsteige und auf einige wenige Gleise, die noch nicht demontiert wurden. Ein kleiner Grillimbiss steht zwischen den einstigen Gleiswegen. Neben dem Grill sind ein Jeep und einige ältere Motorräder gepackt. Es ist knapp 30 Grad. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich freu mich hier zu sein.
Ich schlendere über eine kleine Brücke, dann durch verwinkelte Straßen und Hinterhöfe an der Synagoge vorbei, und dann sehe ich es das Kino Nowe Horyzonty. Das riesige und technisch auf höchstem Niveau ausgestattete Kino ist Spielstätte und Mitveranstalter des 17ten New Horizons. Der Festival zeigt die spannendsten und hochwertigen Filme der diesjährigen Festivalsaison unter anderen Elle von Paul Verhoeven, die Taschendiebin von Park Chan-wook, Toni Erdmann von Maren Ade und viele mehr. Außerdem werden aktuelle polnische Filme gezeigt wie das Spielfilmdebüt von Jan P. Matuszynski Last Family, das nationale und internationale Preise abräumt. Zudem werden dieses Jahr aktuelle Filme aus Israel in einer wechselnden Rubrik besonders viel Raum gegeben. Im größten Arthouse-Kino Europas tummeln sich Filmliebhaber, Festivalleute, Journalisten und Filmermacher*innen. Es ist ein mitreißendes Fest des Kinos, seiner Geschichte und seiner Kraft neue Horizonte zu eröffnen.

Jenseits der Q&As, der Networking-Marathons und der zwischen zwei Screening reingepressten Interviews finden sich in einem Landhaus etwa eineinhalb Stunden von Wrocław im tiefen Schlesien junge Filmjournalist*innen und Filmemacher*innen zusammen. Die Szenerie ist atemberaubend. Das kleine Hotel befindet sich in einem alten Landhaus und ist direkt am See gelegen. Die weißgestrichene Holzfassade, die kleinen viereckigen Fenster und skurrile Dekorationselemente wie eine schwarze Stehlampe, die den Rumpf eines Pferdes darstellt, oder das 2m² große Terrarium eines Leguans geben diesen Orte eine extravagante Atmosphäre.
Pascal Edelmann, Head of Press und PR der Europäischen Filmakademie und Organisator des „Sundays“, betont immer wieder den informellen Charakter unseres Zusammenkommens. Es geht nicht darum, sich gegenseitig auf den Zahn zu fühlen sondern darum sich näherzukommen. Die beiden Seiten der Filmindustrie, die sich sonst nur in klaren Rollen begegnen, kommen hier für die Liebe zum Kino zusammen. Die Filmmacher*innen, die es gewohnt sind sich den kritischen Fragen der Journalisten stellen zu müssen, werden nach ihrer Meinung zu Filmkritik befragt, und müssen nicht ihre Filme verteidigen. Wir reden über unsere Begeisterung und Liebe für das Kino. Das uns dazu bringt, viel auf uns zu nehmen, um unsere Leidenschaft zum Beruf zu machen. Die finanzielle Unsicherheit und die Projektarbeit sind üblich, da sitzen Filmemacherinnen und Filmjournalistinnen im gleichen Boot. Es ist nicht leicht, aber man kämpft, für das was man liebt: Ein Leben für das Kino.

Die Teilnehmer*innen aus Dänemark, Rumänien, Italien, Österreich, Deutschland, Portugal und Polen begegnen sich mit Interesse und Respekt. Wir diskutieren, tauschen uns aus und lernen uns kennen. Die Realität der Filmkritik in Europa ist erdrückend. Wir alle arbeiten zumindest manchmal auch in anderen Bereichen um unseren Lebensunterhalt zu sichern. Die Filmkritik ist die Passion, für die man bereit ist von Festival zu Festival zu eilen, von Screening zu Screening und in Nachtschichten Artikel zu finalisieren und dass alles nur für wenig Geld. Es geht nicht um Profit, sondern der Gewinn ist das Erlebnis: Die Magie der Silver Screens.
Urszula Śniegowska künstlerische Leiterin des amerikanischen Filmfestivals, vielfaches Jurymitglied auf renummerierten Festivals wie Cannes und Venedig schreibt über Film und Kultur über zahlreiche Kanäle. Ohne Arroganz und mit viel Herz organisiert sie das mit Pascal das Zusammenkommen. Das Wissen der Expertin Madgalena Miedl fließt unterschwellig ohne erzieherischen Duktus mit in unsere Gespräche ein. Die Filmemacher*innen sind verdutzt, dass sie sich nicht den üblichen Kreuzverhör stellen müssen, öffnen sich als Menschen. Kennenlernen durften wir Joao Pedro Rodrigues, Gastón Solnicki, Hadas Ben Aroya, Alexandre O. Philippe und Michel Lipkes.

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Nach viel guten Essen, dem Sichten besondere Filme der Auswahl des New Horizons und tiefen Gesprächen mit dem ein oder anderem Glas Wein. Bleibt nicht mehr viel mit als im Jacuzzi oder Hot Top sich von unzähligen Blubberblasen massieren zu lassen und über Gott und die Welt zu reden, sein Herz ausschütten und sich zu Verbrüdern; und nein, man kann nicht einfach so schwanger werden im Jacuzzi, und auch wenn Magdalena zu jeden Festival ein scharfes Küchenmesser mitbringt, wir einen Film nur über Duschszene in Psycho gesehen haben, und blöde Witze über das Set-Up eines Horrorfilm gemacht haben, wir die Tage überlebt. Simply A Sunday in the Country. I think this is the beginning of some beautiful friendships.

Radiobeitrag: Zwischen Wahn und Wahnsinn (The Battle with Satan, The Last Family)

Diese Sendung ist von allen guten Geistern verlassen. Konrad Szołajski dokumentiert den Kampf mit dem Teufel. Die bekannte Künstlerfamilie Beksiński kämpft mit dem Alltag im Warschauer Plattenbau. Unser Gast Sophia Freiheit stellt uns den Film The Last Family vor. Wie immer kommt auch unser Festivals-Publikum zu Wort und wir haben uns mit dem Regisseuren unterhalten.

 

Dieser Radiobeitrag ist im Rahmen des filmPOLSKA-Medienworkshops entstanden. Die Moderation wurde von Heike Brunner und Karl-Leontin Beger übernommen.

Radiobeitrag: Willkommen zur Therapiesitzung mit filmPOLSKA (I, Olga Hepnarová, You Have No Idea How Much I Love You)

Psychotherapie und Psychiatrie sind Themen dieser Sendung z.B. mit der „Crazy Woman“ der tschechischen Geschichte aus dem Film I, Olga Hepnarova. Paweł Łoziński setzt mit seinem neuen Film You Have No Idea How Much I Love You (Nawet nie wiesz, jak bardzo Cię kocham), Film als therapeuthisches Mittel ein.

Dieser Radiobeitrag ist im Rahmen des filmPOLSKA-Medienworkshops entstanden. Die Moderation wurde von Heike Brunner und Karl-Leontin Beger übernommen.

 

Hiob, oder Steppenwolf?

Las 4 Rano (Forest, 4am)

Tätowiert, massig, egoman, sportlich, sexuell aktiv, zugekokst. Der Boss einer Agentur lebt 2 Fast 2 Furious. Dann kommt der Crash. Forst gerät aus der Bahn, rasiert sich seine Designer-Frisur und reißt sich seinen fetten Ohrring aus. Er wird zum Eremit. Irgendwo im Wald lebt er mit seinem dreibeinigen Hund Kroko – wie Krokodil, erklärt er – unter wilden Tieren. Ihn verroht dieses Leben in der Wildnis. Er jagt wilde Hasen, Bieber und isst Kiefer-Eichel-Suppe. Eigentlich isst er alles. Sein kleiner Verschlag bietet alles Nötige für das einsame Leben. Eine Schlange windet sich zu seinen Füßen. Ein Eichhörnchen klettert auf ihm herum. Ein einsamer Wolf besucht ihn ab und zu.

Forest, 4 AM - Spiegel

Steppenwolf

Forst wird selbst zum Steppenwolf. Er ist dem Wahnsinn nahe, kämpft immer wieder mit Selbstmordgedanken. Wie in Herman Hesses Erzählung baut sich der Protagonist gedankliche Brücken, die ihn vor dem Selbstmord bewahren. Ein kleiner Lichtblick in seinem Leben ist die Prostituierte Nata. Die Beiden entwickeln ein freundschaftliches Verhältnis. Sie sind verspielt, beinahe kindlich miteinander. Sie teilen kurze Augenblicke, in denen sich ihr eigentliches Leben ganz weit entfernt. Diese kleinen Inseln sind die Höhepunkte des Films. Sie sind atmosphärisch stark und laden zum Träumen ein.

Forest, 4 am

Hiob

Jan Jakub Kolski ist bekannt dafür, existenzielle Themen zu behandeln. In Las 4 Rano (Forest, 4am) führt er nicht nur Regie sondern ist auch Kameramann und – zusammen mit dem Hauptdarsteller Krzystof Majchrzak – Co-Autor des Drehbuchs. Der Wald als Schauplatz ist gelungen inszeniert und atmosphärisch fotografiert. Die Kameraführung und Bildgestaltung überzeugen. Leider hinkt die Charakterzeichnung. In einem Augenblick ist Forst eine Hiobsfigur, im Nächsten wirkt er psychopathisch. Die Übergänge zwischen geduldiger Selbstaufgabe und Raserei sind nicht glaubhaft. Darunter leidet der Film. Hiob-Zitate als Zwischentitel wirken zu dick aufgetragen. Die psychologischen Motivationen der
Protagonist*innen sind wenig einleuchtend, dagegen sind die Kurzschlussreaktionen auf den Punkt und glaubhaft inszeniert. Viele gute Ideen machen Las 4 Rano zu einem sehenswerten Film.