Neues Polnisches Kino – Eine Bereicherung für die internationale Filmwelt

Das filmPOLSKA-Programm ist vielseitig und durchdacht. Die Retrospektive bietet Interessierten die Gelegenheit, sich mit der großen polnischen Filmkunst der Vergangenheit vertraut zu machen. Es gibt eine Kategorie für Kamerakunst und eine für Special Screenings, die sich in diesem Jahr der Animationskunst widmet. Besonders spannend ist aber auch die Kategorie “Neues polnisches Kino”, die sich mit den jüngsten Werken aus Polen beschäftigt. Die zahlreichen neuen Filme auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist schwierig, denn sie sind so vielfältig wie das Leben selbst. Von sagenhaft trashigen Musicals, wie “Sirenengesang“ und “Polish Shit“, über introspektive Meisterwerke wie “United States of Love“, bis hin zu experimentellen Werken wie “Nude Area“, das komplett auf Dialog verzichtet, ist alles vertreten.

Obwohl moderne polnische Filme den Ruf haben, eher zum düsteren und farblosen zu tendieren, erfüllen die wenigsten der dieses Jahr vertretenen Filme dieses Klischee. Vielmehr wird oft bewusst mit Farben gespielt, um Emotionen auszudrücken. Komödien wie “Polish Shit“ sind laut, lebendig und frisch. Genre-Crossovers, bizarre Bilder und der Mut, intimste Momente auf unverfälschte Art zu zeigen, machen das neue polnische Kino zu einer spannenden Gelegenheit unseren eigenen Alltag zu reflektieren, oder sich einfach nur zurückzulehnen und die großartigen Bilder zu genießen.

"United States of Love"

„United States of Love“

Auch international feiern die polnischen Filme Erfolge. So hat zum Beispiel “United States of Love“ erst bei der Berlinale 2016 den silbernen Bären gewonnen. Während filmPOLSKA waren viele der Filme gut besucht, teilweise sogar ausverkauft. Die breite deutsche Masse lässt sich hier allerdings noch einiges entgehen. Wie schon Knut Elstermann bei der Eröffnung der polnischen Filmtage meinte, ist es höchste Zeit, dass sich das ändert. Denn ein gemeinsamer Nenner der Filme ist dann vielleicht doch zu finden: die große Mehrzahl scheut sich nicht zu experimentieren und Grenzen zu überschreiten, was die internationale Kinolandschaft ungemein bereichert.

In der Reihe neues polnisches Kino laufen: „Sirenengesang“, „Nude Area“, „Die Rote Spinne“, „United States of Love“, „Zud“, „Die Anatomie des Bösen“, „Spanische Grippe“, „Demon“, „Cosmos“, „Raging Rose“, „Der Eindringling“, „Baby Bump“, „Die singende Tischdecke“, „New World“ und „Nachbarn“.

 

„Sirenengesang“ – Ein Märchen für Erwachsene

“Sind ja fast so viele Leute da, wie beim Eröffnungsfilm” stellt der Moderator fest, als er in den Zuschauersaal des Babylon blickt. Das Interesse an “Sirenengesang” ist offensichtlich groß. Zuschauer, die den Film ohne Erwartungen ansehen, werden überrascht werden – ob positiv oder negativ kommt auf die jeweilige Offenheit für Genre-Crossovers und die persönliche Schmerzgrenze für Trash an. Das Horror-Musical mit Fantasy-, Erotik- und Dramaelementen wartet mit einer bizarren Mischung auf. Während der Frage- und Antwortrunde vom Kameramann als “Märchen für Erwachsene” bezeichnet, ist “Sirenengesang” ein rasanter Wechsel aus Musical-Nummern und blutrünstigen Szenen.

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Die zwei Hauptcharaktere, “Gold” und “Silber” sind keine Disney-Meerjungfrauen. Die von Muränen inspirierte Ästhetik der Sirenen ist bewusst abstoßend gewählt, um zu verdeutlichen, dass sie Monster und Jäger sind, erzählt Regisseurin Agnieszka Smoczyńska. Inspirieren ließ sie sich dabei vor allem von Gemälden und alten Mythen. Für ihren ersten Film ist „Sirenengesang“ ein sehr ambitioniertes Projekt. Die nötigen finanziellen Mittel für das experimentelle Werk zu finden war nicht immer einfach. Wie viel am Ende tatsächlich zusammenkam weiß keiner, aber auf dem Papier wären es 1,2 Millionen gewesen – viel für einen Debütfilm, aber wenig für dieses spezielle Werk. Viele Künstler hätten auch nichts mit dem Projekt zu tun haben wollen – einige bereuen es jetzt. Der Kampf den Film auf die Leinwand zu bringen hat sich aber offensichtlich gelohnt: beim Sundance Filmfestival in Salt Lake City feierte er erste Erfolge und vom Publikum im Babylon kommen begeisterte Rückmeldungen. Jemand freut sich, dass so innovative Filme aus Polen kommen; viele andere stellen interessierte Fragen an Regisseurin und Kameramann.

Obwohl der Film beim Festivalpublikum gut ankam, wird er sicher nicht jedem gefallen. Es gibt viele Punkte, die man in dem Disco-Spektakel kritisieren kann, nicht zuletzt die wirre Handlung und die teilweise undurchsichtigen Motivationen der Figuren. In bestimmten Kreisen hat er aber das Potential zum Kultstatus. „Sirenengesang“ lässt sich nicht auf ein oder selbst zwei Genres reduzieren. Die Gestalt der Sirene als Metapher fürs Erwachsenwerden macht den Film eher zur Coming of Age Geschichte als zur Fantasy-Saga. Die zahlreichen Nacktszenen sind oft weniger Erotik als Ausdruck des Animalismus, der die beiden Hauptcharaktere ausmacht. Mit ihrer schrillen Eskalation von kollidierenden Genres, hat Smoczyńska ein polarisierendes Meisterwerk geschaffen, das auch über Polen hinaus Wellen schlagen wird.

Weitere Vorführungen:

Samstag, den 23. April um 20:00 Uhr im FSK
Sonntag, den 24. April um 20:30 im Bundesplatz-Kino

Rezension: „Something Better to Come“

Man kann Moskaus Einwohner auf viele Arten beschreiben: von Luxus bis Armut ist die gesamte gesellschaftliche Bandbreite vertreten. Doch Armut scheint keine adequate Beschreibung mehr für die Umstände die Hanna Polak in ihrem Dokumentar-Epos “Something Better to Come” beleuchtet: die größte Mülldeponie Europas und mittendrin Yula und ihre Familie. Wo sich sonst keiner hintraut, hat Polak – teils unter lebensbedrohlichen Umständen – mehr als ein Jahrzehnt gefilmt. Zwischen den stinkenden Abfällen sieht der Zuschauer wie Yula vom Kind zur jungen Erwachsenen aufwächst; ihr Zuhause eine feuchtkalte, dürftig zusammengebastelte Bretterhütte, die mal am einen Ende der Müllberge steht, mal am anderen.

Es wäre einfach gewesen, die Bewohner der Mülldeponie lediglich als Opfer darzustellen. Stattdessen liefert Hanna Polak einen Film über das Erwachsenwerden eines Mädchens unter unzumutbaren Umständen. Wir sehen wie sie aufwächst, sich die Haare färbt, eine Beziehung eingeht… kurz gesagt die gleichen Meilensteine erlebt wie viele andere Teenager. Oft wird gezeigt, wie unzufrieden Yula mit ihrer Lage ist. Doch man sieht auch wie sie lacht, spielt, und ihren Platz in der engen Gemeinschaft der Menschen, die ihr Schicksal teilen, sucht. Polak selbst ist dabei eher unaufdringlicher Beobachter als Teil des Geschehens. Ab und an sprechen Yula und ihre Familie sie dann aber doch direkt an und das Vertrauensverhältnis zwischen Regisseurin und Gefilmten wird deutlich.

Durch den Einblick in Yulas Alltag wirken einschneidende Erlebnisse umso erschütternder. Yulas Mutter kommt nach Hause und erzählt, dass sie vergewaltigt wurde, Müllmänner diskutieren gelassen über die Toten, die sie inmitten der Abfälle finden, Yulas Großvater beschimpft sie und weigert sich, die Familie bei ihm einziehen zu lassen. Das Ganze immer wieder untermalt von Putins Radioansprachen. Während Putin frohe Weihnachten wünscht und über die Wichtigkeit eines Zuhauses spricht, lauscht Yulas Familie auf der Müllhalde. Die grauen, uniformen Plattenbauten in der Ferne wirken einladend.

Die typische Erfolgsgeschichte bleibt am Ende nicht ganz aus – als eine von wenigen schafft Yula es aus den Müllbergen in eine eigene Wohnung zu ziehen – doch ob es wirklich ein Happy End für sie und ihre Familie gibt, bleibt offen. “Something Better to Come” ist ein einfühlendes Porträt von Menschen, die unter schwersten Bedingungen ihre Menschenwürde bewahren, geprägt von ruhigen Momenten und unverfälschten Bildern.

Weitere Vorführungen:

Samstag, 24. April um 20:00 Uhr im Club der polnischen Versager