„Wild roses“: Interview mit Anna Jadowska

In dem Film Wild roses (Dzikie róże) zeigt die Regisseurin Anna Jadowska das Leben der Ehefrau und Mutter Ewa in der polnischen Provinz. Ich habe mit ihr über die Atmosphäre bei der Filmproduktion und (weibliche) Empathie gesprochen.

 

Das Interview führte Ricarda Fait.

Moshe, Michał, Mike, Mischa

Wer war Michał Waszyński? Dieser Frage geht der Dokumentarfilm von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski nach. Collagenhaft fügen sie Szenen aus Waszyńskis Filmen und Gespräche mit Zeitzeugen aus Polen, der Ukraine, Israel, Italien und Spanien zusammen, die durch Tagebucheinträge des polnischen Regisseurs ergänzt werden. Nach und nach kommen neue Puzzleteile hinzu und eröffnen damit immer neue Blicke auf einen Menschen, der verschiedene Leben in mehreren Ländern und mit unterschiedlichen Identitäten führte.

1904 wurde Michał Waszyński als Moshe Waks im polnischen Kowel, das heute in der Ukraine liegt, als Sohn eines jüdischen Schmieds geboren. In Warschau änderte Waks seinen Namen in Michał Waszyński und konvertierte zum Katholizismus. Dort arbeitete er als Schauspieler und Regieassistent und drehte 1929 seinen ersten Film. 1937 drehte er Der Dybbuk, einen bedeutenden jiddischen Film über eine alte jüdische Legende: Eine Frau wird vom Geist einer unerwiderten Liebe heimgesucht. Sequenzen dieses Films werden immer wieder in den Film Der Prinz und der Dybbuk montiert. Zusammen mit Waszyńskis Tagebucheinträgen, die eine Stimme aus dem Off spricht, ermöglichen sie einen Einblick in das Seelenleben eines unglücklichen Mannes mit vielen Gesichtern. Immer wieder holte Michał Waszyński seine jüdische Vergangenheit in seinen Träumen ein.

Stück für Stück kommt Moshe, Michał, Mike oder Mischa dem Publikum näher und bleibt doch immer rätselhaft. Zeitzeugen erinnern sich – oft mit einem Augenzwinkern – daran, dass Waszyński sich als polnischer Prinz ausgab, eine reiche, alte italienische Gräfin heiratete und homosexuell war, dies aber nur im Verborgenen auslebte. Waszyńskis Chauffeur erzählt, der Regisseur habe in einer Traumwelt gelebt, und ein Graphologe meint, anhand von Waszyńskis Handschrift erkennen zu können, dass er Mythomane gewesen sei – jemand, dem es schwerfällt, Realität und Imagination auseinanderzuhalten. Waszyński, der in Spanien und Italien als Regisseur und Produzent von mehr als 40 Filmen arbeitete, starb 1965 in Italien an den Folgen eines Herzinfarktes.

„Es tut gut, nicht zu wissen, wer ich bin“, sagte Waszyński einmal. Der Satz könnte als Motto für diesen Film stehen, der nur eine Annäherung an einen Mann sein kann, der seine Spuren verwischen wollte. Letztendlich bleibt Michal Waszyński nicht nur im Leben, sondern auch im Film ein Geheimnis, das sich nicht ergründen lässt.

von Stefanie Borowsky

Der Prinz und der Dybbuk: PL/D 2017, 82 Min., R: Elwira Niewiera, Piotr Rosołowski

Leben in einer Traumwelt

Michał Waszyński. In der Zwischenkriegszeit bekannt als einer der bedeutendsten Regisseure des polnischen Kinos, danach Produzent der größten Hollywoodfilme in Italien. Doch wer war er abgesehen von seinen filmischen Errungenschaften?

Ein Friedhof. Eine sonore Stimme, die Yiddisch spricht. Ein junger Mann, der sich langsam in einen Geist verwandelt. Szenen aus dem Film Dybbuk, einem der Meilensteine des polnischen Kinos aus dem Jahr 1937. Regie: Michał Waszyński. Wer nun eine Bestandsaufnahme über die goldene Zeit des polnischen Kinos erwartet, der irrt.
In den folgenden 82 Minuten geht es nur bedingt um die Filmwelt. Es geht auch nicht um ein Leben für den Film, sondern vielmehr um das Kino als Abbild eines Lebens. Des Lebens von Michał Waszyński, genannt „Der Prinz“, einem Mann, der laut Zeitzeugen ebenso geheimnisvoll wie aufregend war, und dessen Vergangenheit bis jetzt nie beleuchtet wurde. Die Regisseure Rosołowkski und Niewiera decken in Der Prinz und der Dybbuk diese Vergangenheit auf. Von Zeitzeugen, die von Waszyńskis Tagen beim Film berichten bis hin zu Bewohnern seines vermeintlichen Heimatdorfes. Die Spurensuche führt nach Italien, in die Ukraine, nach Polen und Israel. Während dieser Erkundungen wird Waszyńskis filmisches Werk immer mehr zur Parallele seines eigenen Lebens. War er wie der Mann in seinem Film Der unbekannte aus San Marino? War der Film Der Dybbuk sein Bekenntnis für das Ringen mit den Geistern seiner eigenen Vergangenheit? In fast essayistischer Weise nähert sich der Dokumentarfilm diesen Fragen an. Unterstützt von Einträgen aus Waszyńskis Tagebuch zeichnet sich zunehmend das Bild eines Mannes ab, der tief im Inneren immer versuchte, etwas zu verbergen: seine Herkunft, seine Heimat oder sogar seine Sexualität.

Der Prinz und der Dybbuk präsentiert sich als hypnotisches, zum Teil sogar surreales Machwerk, dass das Publikum in Fragmenten zu einer geheimnisvollen Biografie führt, ohne dabei zu ausführliche Antworten zu liefern. Dabei entsteht ein Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Der Film gestaltet sich als unterhaltsame und interessante Reise in die frühe Zeit des Films, hin zur komplexen Persönlichkeit Waszyńskis. Ein früherer Wegbegleiter beteuert im Film: „Keiner wusste wie er wirklich war.“ Der Prinz und der Dybbuk gibt zumindest eine Idee davon, wer Michał Waszyński gewesen sein könnte.

von Oliver Sami

Der Prinz und der Dybbuk: PL/D 2017, 82 Min., R: Elwira Niewiera, Piotr Rosołowski

Die Hausfrau des Zeitreisenden

War das jetzt eigentlich Science-Fiction? Als ich aus dem Kino komme und Bodo Kox, den Regisseur von The Man with the Magic Box für ein Interview abfange, schwirrt mir diese Frage im Kopf herum, die mich während des Schauens beschäftigt hat. Sie wird mich auch nach dem Interview nicht loslassen. Nicht weil auch Bodo Kox mir keine eindeutige Antwort darauf geben kann, sondern weil Kategorisierungen für Filme besonders schwer sind, wenn sie zu einfach gesetzt sind.

The Man with the Magic Box spielt in Warschau 2030 und nutzt künstliche Intelligenzen und dystopische Zustände als Folie. Die Stadt befindet sich im Kriegszustand. Statt zwischenmenschlicher Kommunikation, haben wir es mit Virtual-Reality-Brillen und Isolation zu tun. Die Umgebung ist in ein kühles Blau getaucht und Androide beherrschen das Zukunftsbild. In dieser Welt taucht Adam aus der Vergangenheit auf. Sein Körper liegt angeschlossen an Geräte auf einem Tisch in einem Warschauer Wohnzimmer der 1960er Jahre.

Adam gelangt in ein Forschungslabor, wo er als Putzmann eingestellt wird und einen ID-Code auf den Rücken gedruckt bekommt. Dort trifft er auf Goria, die für dieses Forschungslabor arbeitet. Ihre Annäherung verläuft unrealistisch schnell, wird zum Hauptthema des Filmes. Die Absurditäten fügen sich so zu einem Paralleluniversum zusammen. Vergangenheit und Zukunft, die eng miteinander verwoben sind, werden hier von Adam und Goria verkörpert. Sie, eine vermeintlich schlagfertige Frau, die erst nur eine körperliche Beziehung will, und Adam, der sich etwas verwirrt und wortkarg an seine neue Umgebung anpasst und Goria seine Liebe schwört. Schnell sind sich beide einig, dass sie zusammengehören.

Für Bodo Kox ist dies hier sein Konzept von Science-Fiction: Wenn der Krieg ausbricht, Gebäude einstürzen, sich keiner mehr etwas zu sagen hat, und sogar die Androiden abstumpfen, hilft nur noch die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau – eine Erklärung, die ziemlich abgedroschen klingt. Das Rollenverhältnis der beiden Hauptprotagonist*innen schreit nicht nach einem Konzept, das für 2030 stehen könnte. Die Vergangenheit, aus der Adam kommt, färbt allmählich auf Gorias Verhalten und ihre Abhängigkeit zu ihm ab, sodass sie schließlich zu einer „traditionell“ agierenden Frau wird – sie wünscht sich Rendezvous, Rosen, Hochzeit. Zu ihrem extravaganten Kleidungsrepertoire gehört dann plötzlich ein Mantel mit Bärenohren, mit dem sie eher lächerlich als innovativ aussieht.

Am Ende wird das Ganze auf die Spitze getrieben: In Adams Vergangenheit gereist, erscheint Goria als Hausfrau der 1960er Jahre. Der Weg zurück zu einem konservativen Ursprung ist in Polen gerade in der aktuellen Debatte um Abtreibung und die Selbstbestimmung von Frauen eine schwierige Botschaft, vor allem wenn ein Film eine Zukunftsvision darstellen will. Gleichzeitig reiht sich The Man with the Magic Box in die Tradition von Blockbustern wie Blade Runner (2017) oder Elysium (2013) ein – eine Science-Fiction, die männlich konnotiert ist und kommerzielles, auf Tempo und Special Effects getrimmtes Kino bietet. Der Film nutzt das Potential nicht aus, das Science-Fiction aber durchaus haben könnte, eben nicht nur Frauen in neuen Rollen agieren zu lassen, sondern auch das Genre ernst zu nehmen. Science-Fiction schafft neue Realitäten, die in unsere gewohnten und verengten Vorstellungen von Welt eingreifen sollen. Andrei Tarkowskis Stalker von 1979 oder Christopher Nolans Inception sind Filme, die Science-Fiction auf ganz unterschiedliche Weise interessant definieren, sich künstlerisch ausprobieren und dabei neue Welten und aufrüttelnde Fragen auf die Leinwand bringen. Und wenn Bodo Kox auch eine geschlechterpolitische Dystopie statt einer fortschrittlichen Zukunftsvision entwerfen wollte, tritt seine Science-Fiction als Satire nicht genügend hervor.

von Paula Sawatzki

Foto: (c) Reel Suspects

The Man with the Magic Box: PL 2017, 103 Min, R: Bodo Kox

 

Das Leben – eine Maskerade

„Ich beginne, an Träume zu glauben. Ich ziehe einsam durch die Straßen. Schaue ich die anderen an, kehrst du zurück. Überall unvollendete Umarmungen, ersehnte Blicke. Ich fühle mich wie hin- und hergerissen. Lass mich in Ruhe.“ So ein Tagebucheintrag Michał Waszyńskis aus den 1960er Jahren. Doch wer war dieser Mann, der Anfang des 20. Jahrhunderts im damaligen Wolhynien geboren wurde und 1965 als polnischer „Prinz“ in Italien starb?

Der neue Dokumentarfilm Der Prinz und der Dybbuk von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski geht dieser Frage auf den Grund – feinfühlig, kunstvoll, collagenhaft. Nach und nach wird ein Porträt Waszyńskis entworfen, dessen Spuren in die Ukraine, nach Polen, Israel, Italien, Spanien und in die USA führen. Geboren als Mosche Waks, konvertierte Waszyński zum Katholizismus, als er Ende der 1920er nach Warschau ging. Die 1930er Jahre sollten seine produktivsten Jahre werden, zahlreiche Filme entstehen unter seiner Regie. So auch Der Dybbuk, der jiddische Mythos eines Geistes, der seine erste Liebe heimsucht. Wie bei Waszyński selbst. Er kann sich seiner Vergangenheit nicht entziehen, auch wenn er sich in Italien, wo er nach dem Zweiten Weltkrieg lebt und arbeitet, als polnischer Prinz ausgibt. Immer wieder vermischen sich Szenen aus dem Film mit dem dokumentarischen Material, auf Jiddisch gelesenen Passagen aus Wasyńskis Tagebucheinträgen und kunstvollen Licht- und Farbspielen.

Am Ende weiß man trotzdem nicht genau, wer Michał Waszyński war. Man erhält lediglich einen Eindruck über das Leben dieses Mannes, bekommt eine Idee von dem, was ihn auszeichnete und darüber, wer er gewesen sein könnte. Waszyńskis Maskenspiel war erfolgreich. Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski haben in Der Prinz und der Dybbuk versucht hinter diese Masken zu schauen und das Wesen ihres Protagonisten zu ergründen. Auch wenn hier kein geschlossenes Bild entstanden ist, stellt der Film dennoch einen wichtigen filmischen Beitrag über einen einzigartigen Menschen dar.

von Elisabeth Müller

Der Prinz und der Dybbuk: PL/D 2017, 82 Min., R: Elwira Niewiera, Piotr Rosołowski

Den Steppenwolf freilassen

Das dokumentarische Drama über eine mongolische Famile ist beruhigend schön.

Die Mongolei hat eine Bevölkerungsdichte von 21 Menschen pro Quadratkilometer und ist damit eines der am dünnsten besiedelten Länder der Welt. Saal 2 im Wolf Kino hat an diesem Abend eine Sitzplatzdichte von 1 Mensch pro 40 Sitzen und ist damit einer der einsamsten Orte Neuköllns, der einstimmt auf ein zentrales Motiv des Films: das Alleinsein. Also erstmal in den Sessel gefläzt und die Käsemauken auf den Vordersitz gelegt. Riecht ja keiner.

wolf-kino-leer-zud

Es läuft Zud, ein Drama der polnischen Regisseurin Marta Minorowicz, das in der mongolischen Steppe spielt und mit Laienschauspielern gedreht wurde. Zud fühlt sich an wie ein Dokumentarfilm – ein Genre, das mitunter die besten Dramen erzählt. Und tatsächlich flechtet Minorowicz immer wieder ungestellte Originalaufnahmen in ihre ansonsten fiktionale  Geschichte ein. Die Naturgewalten lassen sich nicht inszenieren. Die Grenzen zwischen Realität und Fantasie sind hier fließend und der Realismus des Films wirkt magisch.

Mit respektvollem Abstand beobachten wir, wie Sukhbat, der Sohn der Familie, ein Pferderennen gewinnen soll -gewinnen muss – um die Familie finanziell zu retten. Es folgt eine Geschichte von Vater und Sohn, von Leistungsdruck und von der Zähmung der Widerspenstigen. Eine scheinbar uralte Geschichte, die so aber noch nie erzählt wurde, und die sich hier mit großer Langsamkeit entfaltet.

Achtsames Kino

Meine Auge ruhen sich aus und bestaunen die erdige Farbgebung, die Handkamera, die körnigen Bilder in Analogoptik. Meine Ohren hören sinnlich knisternden Schnee, ein knackendes Lagerfeuer, Wasser, das rinnt, und einmal, in einer der stärksten Szenen, den singenden Jungen, der das Pferd antreibt oder sich selbst. Mein Geist gibt sich dem gemächlichen Fluss der Geschichte hin, verweilt in langen Einstellungen. Endlich die Ruhe, die schmerzlich vermisste Ruhe. Eben auf dem Weg zum Wolf noch einen Verkehrsunfall miterlebt. Achtsames Kino im Anschluss eine Wohltat. Das ist hier aber nicht automatisch mit Schönem gleichzusetzen, denn es fließt Blut in diesem Film und eine der eindrücklichsten Szenen ist wohl die, in der eine Schlange eine Maus erwürgt und frisst. Der Lauf der Natur, in dem die Unterschiede zwischen Mensch und Tier nur noch marginal sind, ist eine der kraftvollsten Instanzen, die den Film trägt.

Es lohnt sich, ab und zu in einem Programmkino einen Film von 2016 anzusehen. Zum Runterkommen, zum Meditieren, zur Erinnerung, dass es noch ganz andere Welten gibt. Reizüberflutete in Berlin? Ab in die Einsamkeit der mongolischen Steppe!

von Sabrina Pohlmann

Zud: PL 2016, 85 Min., R: Marta Minorowicz