Radiobeitrag: United States of Love

United States of Love erzählt das Schicksal von vier polnischen Frauen in den Umbruchjahren um 1990. Der Film von Regisseur Tomasz Wasilewski gewann den Drehbuchpreis der diesjährigen Berlinale. Bei filmPOLSKA läuft er in der Sektion Neues Polnisches Kino.

Ein Beitrag und Gespräch mit Julia Kijowska:

 

„Zud“- Porträt einer Nomadenfamilie

Eine karge Landschaft, geprägt von Hügeln in der Ferne, einem staubigen Boden und den Viehherden der Nomaden, die sich in diesem Teil der Erde ein Zuhause geschaffen haben. Das Leben in der mongolischen Steppe ist hart. Mehrmals im Jahr kommt der Zud; ein Kälteeinbruch mit Sturm und Schnee, der viele Familien an ihre Grenzen bringt. Besonders das Viehsterben in Folge der extremen Kälte führt schnell zur Existenzbedrohung, denn die Tiere sind hier Lebensgrundlage.

Als der Zud unerwartet über den elfjährigen Sukbhat und seine Familie einbricht und viele ihrer Ziegen und Schafe erfrieren, steht sein Vater vor einer schwierigen Situation. Er hat Schulden und muss zu Geld kommen. Die Mutter muss sich um den kleinen Sohn kümmern, er selbst ist mit den Tieren beschäftigt. Plötzlich liegt es am älteren Sohn, Sukbhat, Geld für die Familie aufzubringen. Da im Dorf regelmäßige Pferderennen stattfinden, bei denen man viel Geld gewinnen kann, zwingt der Vater den Jungen, ein wildes Pferd einzureiten. Alle Hoffnung liegt nun auf ihm.

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Das Spielfilmdebüt von Marta Minorowicz erinnert an die Dokumentarfilme, mit denen sie berühmt geworden ist. Dass sie nun einen Spielfilm gedreht hat, überraschte bereits auf der diesjährigen Berlinale. Die ruhigen Bilder, welche die Charaktere in ihrem ganz alltäglichen Ablauf zeigen, könnten ebenso gut eine Dokumentation sein. Die Schauspieler sind Laien und teilweise auch im richtigen Leben miteinander verwandt. Warum Minorowicz sich dennoch für die Spielfilmvariante entschieden hat, ist nicht ganz klar. Gelegentlich fragt man sich, ob eine Dokumentation nicht doch die schönere Lösung gewesen wäre.

Es passiert nicht viel hier draußen, das Leben ist von Arbeit geprägt, das Zusammenleben mit den Tieren steht im Vordergrund. Der Vater schert die Schafe und versucht, das Fell zu verkaufen, Sukbhat trainiert sein Pferd und spielt mit seinem gleichaltrigen Freund, schließlich ist er trotz der Bürde, die ihm auferlegt ist, noch immer ein ganz normaler Junge, der sich kichernd über die Mädchen in seiner Klasse amüsiert. Zur Schule gehen kann Sukbhat ohne Geld aber nicht mehr. Die Mutter wäscht die Kinder und kocht, über der Steppe weht leise der Wind. Man muss sich einlassen auf die Stille, die mit diesem Leben und damit auch mit diesem Film einhergeht. Das kann sicherlich nicht jeder. Die intensivsten Szenen sind dann doch die wenigen mit Dialog, dann, wenn Vater und Sohn gemeinsam das Pferd trainieren und ihre Beziehung zueinander deutlich wird. Vor allem aber ist „Zud“ etwas fürs Auge. Ein Film, den man nur in der richtigen Stimmung anschauen sollte.

Termine:

Montag, 25.4. 20:30 Uhr, Bundesplatz Kino (zu Gast: Marta Minorowicz)

Dienstag, 26.4. 20:00 Uhr, FSK (zu Gast: Marta Minorowicz)

Rezension: „Nachbarn“ („Sąsiady“)

Wie wirft man einen Kohleneimer auf den Kopf von Jemandem, wenn der Zucker alle ist und der Mann schwanger ist?

Ein Mann versucht, einen Karpfen für Ostern zu kaufen… (Das ist seltsam, da man normalerweise in Polen Karpfen zu Weihnachten kauft.)  Doch noch einmal zurück, ein Mann versucht einen Karpfen für Ostern zu kaufen. Der Fisch entpuppt sich als Hase und wenn man ihn in die Badewanne steckt, legt er Ostereier…

Der Film „Nachbarn“ („Sąsiady“) beginnt verwirrend. Gedreht wurde er (nach zwanzig Jahren Pause) von Grzegorz Królikiewicz, der als Meister der Avantgarde in Polen gilt. Der Streifen spielt in der Industrie- und Filmstadt Łódź, wo Królikiewicz seit mehr als dreißig Jahren als Professor an der Filmhochschule tätig ist. Noch genauer gesagt, der Spielort ist ein zerfallenes Mietshaus aus rotem Backstein in einem Elendsviertel. Die Hauptdarsteller, sind die Bewohner dieses Hauses und wir sehen, wie deren „grauer“ Alltag aussieht. So wie das Mietshaus in einzelne Wohnungen geteilt ist, so teilt sich der Film, teils in Kurzgeschichten und episodische Szenen. Das ist aber erst der Anfang.

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Es ist schwierig zu sagen, in welcher Zeit „Nachbarn“ spielt. Vieles deutet darauf hin, dass es sich um Polen zur Zeit des Sozialismus handelt. Lange Warteschlangen, leere Einkaufsläden erinnern an die 80er Jahre. Manchmal aber taucht auch modernste Technik auf, wie zum Beispiel eine Drone mit einer Kamera. In einer Episode geht es darum, dass ein Nachbar ein neues Auto gekauft hat. Es handelt sich dabei um eine alte polnische Karosse (Syrena) aus den 60er, 70er Jahren. Einer von vielen Charakteren sagt: „Ich bin irgendwo zwischen 1945 und 2000 etwas“ ,Weihnachten und Ostern finden gleichzeitig statt. Alles ist sehr verwirrend. Die meisten Szenen scheinen auf den ersten Blick keinen Sinn zu machen. Die einzelnen Geschichten sind kaum miteinander verbunden; eine wirkt absurder, skurriler, abstrakter als die andere. Ein Motiv taucht allerdings häufig auf: zwei aufeinander rückende Mauern. In der Spalte zwischen diesen Mauern sind die Nachbarn gefangen, in einer Welt „zwischen 1945 und 2000 etwas“; Einer Welt in der die Zeit rückwärts gehen kann und Männer schwanger werden. Die Schließung eines Krankenhauses wird frenetisch gefeiert. Man wirft sich gegenseitig die Kohle auf dem Kopf. Bei einer Frau entdeckt man, dass sie zwei Herzen hat. In der Stadt verschwindet plötzlich der ganze Zucker. Der in Polen bekannte Bodybuilder Mariusz Pudzianowski (die polnische Antwort auf Arnold Schwarzenegger?) ist Priester und besucht die Bewohner, um mit ihnen zu beten. Ist es die Wirklichkeit oder ist es ein Traum? Ist die Spalte zwischen den Wänden, ähnlich wie das Kaninchenloch in „Alice in Wunderland“, das zu einer anderen fantastischen Welt führt?

Schon in seinen anderen Filmen zeigte sich der Altmeister Grzegorz Królikowski als ein radikaler Avantgardist, der offene Fragen liebt. Nicht anders verhält es sich mit „Nachbarn“, wo man verzweifelt nach Antworten sucht. Man kann natürlich die gute schauspielerische Leistung, die Bilder und die Musik loben. Aber eigentlich versteht man den Film nicht und kann ihm nicht folgen. Es ist also kein Film für ein breites Publikum. Als Zuschauer versucht man nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Wenn man die vom Regisseur erschaffene Welt akzeptiert, kann man vielleicht auch Komik in diesen Mietshausszenen entdecken. Diese Komik ist typisch polnisch, denn in Polen muss nicht jeder Witz mit einer Pointe enden.

Polnischer Dokumentarfilm: Ganz nah dran am Geschehen

An Dokumentarfilmen scheiden sich die Geister. Die einen genießen den Wegfall der Mauer aus Fiktion, für die anderen ist die reale Geschichte doch zu sehr durch die/den RegisseurIn gelenkt. Trotzdem ist es die realistischste Form des Films. Durch sie lernen wir die Welt ein Stück besser kennen, und sehen sie durch andere Augen. Das filmPOLSKA-Festival widmete diesem Genre eine eigene Reihe.

In Polen hat der Dokumentarfilm eine große Bedeutung. Große Namen wie Krzysztof Kieślowski und Kazimierz Karabasz starteten ihre Karriere in diesem Genre. In den polnischen Kinos war es bis in die 1980er Jahre sogar üblich, dass vor dem Hauptfilm ein Dokumentarfilm gezeigt wurde.

Die drei Dokumentationen, die beim diesjährigen filmPOLSKA-Festival gezeigt wurden, lassen sich wohl am besten unter dem Titel „Wandel” zusammenfassen. Die Kamera begleitet die Protagonisten dabei, wie sie wesentliche Veränderungen in ihrem Leben wie Altern, Geschlechtsumwandlung oder Ausbruch aus dem Milieu, meistern.

Wojciech Staroń dokumentiert in seinem Film „Brothers“ die Geschichte zweier Brüder, die im Alter von fast 90 Jahren aus Russland nach Polen zurückkehren. Der exzentrische Maler Alfons und der pragmatische Wissenschaftler Mieczysław Kułakowski beziehen ein Haus in einer polnischen Kleinstadt. Als Kinder wurden sie in ein sibirisches Gulag deportiert, lebten lange in Kasachstan und versuchen nun einen Neuanfang in Polen. Trotz ihres hohen Alters, wollen sie die Buntheit ihres Lebens nicht aufgeben. Alfons macht dafür immer noch täglich Gymnastik, um sich fit zu halten. Doch auch sie können den Fängen des Alters nicht entkommen. In ausdrucksstarken und poetischen Bildern porträtiert Staroń auf einfühlsame und unaufdringliche Weise das enge Band zwischen den Brüdern, das sich durch ihr ganzes Leben zog.

Noch am Anfang ihres Lebens steht Yula. Sie lebt mit ihrer Familie auf der größten Müllhalde Europas, nur 13 Meilen vom Kreml und dem Roten Platz entfernt. Kaum zu glauben, dass in diesem Dreck Menschen leben. Doch die Müllhalde ist Heimat für viele obdachlose Menschen. Ihre Geschichten erzählt die Regisseurin Hanna Polak in „Something Better to Come“. Besonders die von Yula, welche sie bei heimlichen Dreharbeiten in den Müllbergen kennenlernte. Über 14 Jahre begleitete Polak das Mädchen, zeigt ihr Erwachsenwerden und ihren Kampf ums Überleben. Dabei dokumentiert sie nicht nur das Elend der Menschen, sondern auch ganz alltägliche Szenen. Haare färben, Nägel lackieren oder die erste Liebe, das sind normale Themen im Leben eines jeden Teenagers. Es entstand ein anrührender und zugleich verstörender Film, mit dem es Polak gelingt, den Vergessenen und Ausgestoßenen der Gesellschaft eine Stimme zu geben.

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Ausgestoßen wurde auch Marianna. Früher einmal war Marianna Wojtek. Im Alter von 40 Jahren entscheidet sich Wojtek dazu, seine Frau und seine Kinder zu verlassen, um als Frau zu leben. Ein Schritt, der Konsequenzen hat. Nicht nur, dass sich fast ihr gesamtes Umfeld von ihr abwendet. Auch die bevorstehenden körperlichen Veränderungen sind eine große Herausforderung. Aber Marianna hat sich entschieden, sie will den Weg gehen, mit all seinen Konsequenzen und Rückschlägen. Die Filmemacherin Karolina Bielawska vermittelt dem Zuschauer in expressiven und sehr persönlichen Bildern, was einen Menschen dazu bringt, sein geordnetes Leben total aufzugeben um dem nachzuspüren, wer er sein will. Die Bilder wechseln zwischen harter Realität, melancholischen privaten Filmaufnahmen der 90er Jahre bis hin zu der liebevoll dargestellten Zerbrechlichkeit Mariannas.

Alle drei Filme geben uns einen Einblick in die ganz persönliche Lebenswelt von Menschen, die etwas abseits der gesellschaftlichen Normvorstellungen liegt. Sie lassen uns über den eigenen Tellerrand hinaus blicken und Dinge besser verstehen. Die einfühlsamen, poetischen Bildern dieser Dokumentationen berühren, und lassen uns eintauchen in eine andere Welt. Sie können dazu beitragen, dass die Menschen einander ein Stück weit besser verstehen.

 

Weitere Vorführung „Brothers“:

Dienstag, den 26. April um 20:15 Uhr im Babylon

 

Weitere Vorführungen „Call me Marianna“:

Dienstag, den 26. April um 20:30 Uhr im Babylon

Mittwoch, den 27. April um 20:00 Uhr im FSK

Neues Polnisches Kino – Eine Bereicherung für die internationale Filmwelt

Das filmPOLSKA-Programm ist vielseitig und durchdacht. Die Retrospektive bietet Interessierten die Gelegenheit, sich mit der großen polnischen Filmkunst der Vergangenheit vertraut zu machen. Es gibt eine Kategorie für Kamerakunst und eine für Special Screenings, die sich in diesem Jahr der Animationskunst widmet. Besonders spannend ist aber auch die Kategorie “Neues polnisches Kino”, die sich mit den jüngsten Werken aus Polen beschäftigt. Die zahlreichen neuen Filme auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist schwierig, denn sie sind so vielfältig wie das Leben selbst. Von sagenhaft trashigen Musicals, wie “Sirenengesang“ und “Polish Shit“, über introspektive Meisterwerke wie “United States of Love“, bis hin zu experimentellen Werken wie “Nude Area“, das komplett auf Dialog verzichtet, ist alles vertreten.

Obwohl moderne polnische Filme den Ruf haben, eher zum düsteren und farblosen zu tendieren, erfüllen die wenigsten der dieses Jahr vertretenen Filme dieses Klischee. Vielmehr wird oft bewusst mit Farben gespielt, um Emotionen auszudrücken. Komödien wie “Polish Shit“ sind laut, lebendig und frisch. Genre-Crossovers, bizarre Bilder und der Mut, intimste Momente auf unverfälschte Art zu zeigen, machen das neue polnische Kino zu einer spannenden Gelegenheit unseren eigenen Alltag zu reflektieren, oder sich einfach nur zurückzulehnen und die großartigen Bilder zu genießen.

"United States of Love"

„United States of Love“

Auch international feiern die polnischen Filme Erfolge. So hat zum Beispiel “United States of Love“ erst bei der Berlinale 2016 den silbernen Bären gewonnen. Während filmPOLSKA waren viele der Filme gut besucht, teilweise sogar ausverkauft. Die breite deutsche Masse lässt sich hier allerdings noch einiges entgehen. Wie schon Knut Elstermann bei der Eröffnung der polnischen Filmtage meinte, ist es höchste Zeit, dass sich das ändert. Denn ein gemeinsamer Nenner der Filme ist dann vielleicht doch zu finden: die große Mehrzahl scheut sich nicht zu experimentieren und Grenzen zu überschreiten, was die internationale Kinolandschaft ungemein bereichert.

In der Reihe neues polnisches Kino laufen: „Sirenengesang“, „Nude Area“, „Die Rote Spinne“, „United States of Love“, „Zud“, „Die Anatomie des Bösen“, „Spanische Grippe“, „Demon“, „Cosmos“, „Raging Rose“, „Der Eindringling“, „Baby Bump“, „Die singende Tischdecke“, „New World“ und „Nachbarn“.

 

Julia Kijowska: „Der Käfig ist offen, aber niemand will ausbrechen.“

Tomasz Wasilewskis Film „United States of Love“ zeigt das Leben von vier Frauen zu Beginn der 1990er Jahre. Die drei Episoden des Films steigern sich in Drastik und Schwere der Probleme, mit denen die Frauen einer polnischen Kleinstadt zu kämpfen haben. Sie leben in einer patriarchischen Welt, die nur entfernt von den Versprechen des gesellschaftlichen Wandels erzählt.

Mit der Schauspielerin Julia Kijowska haben wir über die Unterschiede zwischen Polen und Deutschland, die Umbrüche der Neunziger und das Leid der Frau als Metapher eines ganzen Landes gesprochen.

Das filmPOLSKA-Festival ist eine besondere Art, das polnische Kino zu feiern. Was sind Ihre Berührungspunkte mit der deutschen Kultur?

Ich denke, dass wir sehr eng verbunden sind. Gerade Berlin ist für mich persönlich ein ganz besonderer Ort. Beim Screening von „United States of Love“ gestern habe ich erst wieder erkannt, wie ähnlich wir eigentlich sind. Viele Dinge in unserer gemeinsamen Geschichte erinnern wir auf ähnliche Weise, aber mit kleinen Unterschieden. Ich spreche da natürlich von unserer Generation, die nach diesem ganzen Mist aufgewachsen ist. (lacht) Es gab aber dann doch einige Details, die vom Publikum anders wahrgenommen wurden, was mich ein wenig überrascht hat.

Was waren das für Details?

Ganz simple Dinge wie bestimmte kirchliche Rituale, an die ich mich sehr genau erinnere und die ein polnisches Publikum sofort erkennt. Diese Rituale haben die deutschen Zuschauer doch sehr überrascht. Ich sehe aber, dass meine Generation – gerade jene GroßstädterInnen aus Warschau, wie ich es selbst bin – den Deutschen in unserem Alter sehr ähnlich sind. In vielerlei Hinsicht macht Warschau gerade eine gute Entwicklung durch, ähnlich wie Berlin vor 15 Jahren.

Sie sprachen gerade die kleinen Unterschiede an, die man in Polen schnell erkennt. Was ist denn, Ihrer Meinung nach, an United States of Love besonders polnisch?

Einerseits ist es ein sehr universeller Film. Das habe ich im Wettbewerb der Berlinale feststellen dürfen, wo viele Zuschauer den Film sehr genau verstanden haben. Die Beziehungen, das Glück und die Kämpfe der Figuren im Film gehören einfach zum menschlichen Dasein.

Andererseits geht es viel um das Polen einer bestimmten Zeit. Der Kommunismus ist gerade zusammengebrochen und es gibt völlig neue Möglichkeiten. Der Käfig ist offen, aber niemand hat den Mut wirklich auszubrechen. Die vier Frauen im Film wollen etwas bewirken, wollen aus dem Käfig ausbrechen, aber es ist sehr schwer für sie.

Sie waren zu dieser Zeit noch in der Grundschule. Konnten Sie für ihre Rolle trotzdem auf eigene Erinnerungen aus dieser Zeit zurückgreifen? Oder haben Sie Erfahrungen Ihrer Eltern verarbeitet?

Ich habe mit dem Regisseur Tomasz Wasilewski viel über unsere Erinnerungen gesprochen. Wir haben haufenweise Filme und Fotos aus dieser Zeit angeschaut. In gewisser Weise haben wir die Geschichte unserer Eltern aus Kindersicht verfilmt. Allerdings war es auch eigenartig, einen historischen Film über eine Zeit zu drehen, an die ich mich mit all ihren Details erinnere.

Es herrschten einfach andere soziale Beziehungen vor. All diese Menschen außerhalb der Familie, Nachbarn zum Beispiel, wurden trotzdem als Familienmitglieder behandelt. Häufig kam jemand vorbei, wenn ein Löffel Butter oder ein Glas Zucker gefehlt hat. Alle Menschen waren auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden.

Heute ist das komplett anders. Vermutlich ist es einfacher Brüder im Geiste zu sein, wenn man gegen die gleichen Dinge kämpft. In der heutigen Gesellschaft existiert man zunächst einmal als Individuum.

Wieso haben Sie sich auf diese vier Geschichten von Frauen zu genau dieser Zeit konzentriert? Herrschen dieselben Probleme nicht auch heute noch vor?

Die Probleme bestehen immer noch, aber die vier Frauen würden heute ganz anders damit umgehen. Zum Beispiel steckt die Figur der Agata, die ich spiele, in einer furchtbaren Ehe fest. Beide Partner können sich einfach nicht zu einer Scheidung durchringen. Tomasz Wasilewski hat sich dabei von einem Fall in seinem Bekanntenkreis inspirieren lassen. Er hat erst mit 14 Jahren das erste Mal eine Frau kennengelernt, die von ihrem Mann geschieden lebte. Ist das nicht unglaublich? (lacht) Es gab einfach keine andere Möglichkeit, eine Scheidung war absolut inakzeptabel.

Auch die Geschichte von Dorota Kolak, deren Figur sich in die Nachbarin verliebt hat, spielt eine wichtige Rolle. Heute haben sich solche Tabus ein wenig verschoben. Natürlich ist es nach wie vor schwierig für lesbische Liebe, aber eben lange nicht so wie zu dieser Zeit. Der starke Wille nach Veränderung sowie die Abwesenheit von Liebe und Freiheit sind gleich geblieben. Trotzdem hat Tomasz tolle Beispiele für die Strenge dieser Zeit gefunden.

Welche Besonderheit an Agata hat Sie so beeindruckt, dass Sie diese Rolle spielen wollten?

Mich haben vor allem jene Details beeindruckt, die unter der Oberfläche liegen. Klar, eine Frau, die sich in einen Priester verliebt ist zunächst einmal…(schnipst mit den Fingern)… attraktiv als Schauspielerin. Aber ich wollte gleichzeitig eine Erklärung für die fehlende Spiritualität in ihrem Leben finden. Agata verliebt sich vor allem in die Idee, dass es etwas Wichtigeres im Leben gibt, einen Grund für die eigene Existenz.

Mein Ziel war es, mit dieser Figur einen Ausdruck dafür zu finden, dass sie lange Zeit niemand wirklich berührt hat. Sie ist da vergleichbar mit einem wilden Tier. Ihr Körper ist nicht mehr weiblich und sie hat vergessen, was es bedeutet, attraktiv zu sein. Ihr Begehren danach nimmt aber immer mehr Raum ein. Das lässt sich durchaus direkt auf Polen münzen, auf eine ganze Landschaft. Wenn man sich diese Landschaft anschaut, möchte man nur noch weinen, denn sie ist so hässlich. Niemand weiß mehr, wie es dazu kommen konnte. Wie konnte man solche beschissenen grauen Klötze überall hinstellen? (lacht) Es ist die gleiche Suche nach Bedeutung wie bei Agata, nur auf einer anderen Ebene.

Arbeitet Agata deshalb in einer Videothek und lässt sich diese metaphorische Leere Polens durch Filme füllen?

Genau! Im Skript steht etwa, dass sie verrückt ist nach der Serie Die Dornenvögel, einer Liebesgeschichte zwischen einem Priester und einem jungen Mädchen. Agata ist eine Eskapistin, die in Filmen nach Alternativen zu ihrem jetzigen Leben sucht. Sie denkt: So könnte also dein Leben sein, aber es ist nicht so. Ihr bleibt nur, auf dem Balkon zu stehen und rauchend die weite Landschaft anzustarren.

Deshalb auch die Zeit: 1990, endlich tut sich etwas und alles ist möglich! Der Käfig ist offen. Okay, aber was soll ich damit anfangen, fragt sich Agata. Wie soll ich mich verhalten? Hat sich überhaupt etwas verändert? Nicht viel. (lacht) Der Film ist eben auch die Geschichte eines Transformationsprozesses einer „Dornröschen-Generation“. Es hat sich einiges im Leben der Frauen verändert, aber sie hatten nicht genügend Zeit, diese Veränderungen überhaupt wahrzunehmen.

Das Interview führte Hannes Wesselkämper (übersetzt aus dem Englischen).

„Die rote Spinne“ – Im Netz der dunklen Seele

Krakau im Winter 1967. Am Rande eines Jahrmarkts entdeckt der junge Turmspringer Karol eine Kinderleiche. Die typischen Einschläge am Kopf deuten auf den Serienmörder hin, der die Stadt schon seit längerer Zeit in Atem hält: „Die rote Spinne“. Karol beschließt, auf eigene Faust zu recherchieren und kommt seinem Ziel bald gefährlich nahe. Wie es dem jungen Mann gelingen konnte, den Mörder, der als Tierarzt arbeitet, ausfindig zu machen, während die Polizei nach dutzenden Morden noch immer keine Anhaltspunkte zu haben scheint, bleibt offen. Es ist nur eine von vielen Ungereimtheiten, die das Spielfilmdebut des Regisseurs Marcin Koszałka begleiten.

Einen Serienmörder, der Polen in den 60er Jahren in Atem hielt, gab es wirklich. Als „Vampir von Kraków“ trieb er damals sein Unwesen. Die zweite Figur, die dem Mörder auf die Schliche kommt, entspringt Koszałkas Fantasie.

Akribisch klebt Karol Zeitungsberichte über die Morde in ein Album, denn auch in ihm schlummert eine dunkle Seite. Nachdem er den Mörder längere Zeit verfolgt hat, vergiftet er sogar seinen eigenen Hund, um Kontakt zu dem Tierarzt aufzunehmen. Es dauert es nicht lange, bis sich die beiden Männer durchschaut haben. Es entsteht eine seltsame Lehrer-Schüler Beziehung. Besonders folgsam ist Karol allerdings nicht.

Koszałka ist vor allem für seine Dokumentarfilme bekannt. Auch in „Die rote Spinne“ führt er selbst die Kamera. Der geübte Blick des Beobachters kann aber nur teilweise das nicht eingelöste Versprechen der Story wieder wett machen. Ein Psychogramm eines Mannes soll es sein, der eine Faszination für einen Serienmörder entwickelt. Tatsächlich auch einen eigenen Mord zu begehen, gelingt Karol nicht – der einzige Hinweis darauf, dass es eine Zerrissenheit in ihm geben mag. Den Ruhm und die Aufmerksamkeit wünscht er sich trotzdem. Schließlich behauptet er bei der Polizei, selbst die rote Spinne zu sein. Da er durch den eigentlichen Mörder Insiderwissen über die Morde verfügt, glaubt man ihm.

Bewusst zieht Karol seine Lüge durch, keine Spur von Zweifel oder Selbstreflektion. Tatsächlich wird sein Charakter dadurch uninteressanter, als er hätte sein können. Moralische Fragen werden nicht gestellt, Spannung kommt eigentlich nie auf. Darum geht es auch nicht, könnte man jetzt behaupten, konzentriert wird sich stattdessen auf die seltsame Beziehung der beiden Männer zueinander und zu ihrer Umwelt. Leider scheitert auch diese Darstellung, da die Handlungen der Figuren nicht wirklich nachvollziehbar sind. Teilweise wird noch versucht zu erklären: die Kommunikation zu seinen Eltern, mit denen Karol noch zusammen lebt, scheint gestört zu sein: eine wortkarge Mutter und ein ehrgeiziger, kalter Vater bilden weitere Rahmenfiguren der Handlung, deren Hintergründe jedoch nicht weiter beleuchtet werden. So bleibt das Gefühl einer verpassten Chance, vor allem bei der Charakterentwicklung.

Termine:

Die rote Spinne: 27.4., 21:00 ACUDKino

Radiobeitrag: „Sirenengesang“

„Sirenengesang“ ist eine Mischung aus Musical, romantischer Komödie, Erotik-, Horror- und Trashfilm. Eine absolut ungewöhnliche Geschichte, die das Leben zweier Schwestern in einem polnischen Tanzklub der 80er Jahre zeigt.

Das Besondere an den Schwestern: Sie sind Meerjungfrauen. Sobald Gold und Silber das Wasser verlassen, verlieren sie ihren Fischschwanz.

Im Tanzklub werden sie die neue Attraktion und bezaubern Künstler und Publikum. Schnell verliebt sich die blonde Silber in einen der Musiker.

Das Problem: Obwohl die beiden Meerjungfrauen einen weiblichen Oberkörper haben, ist ihre untere Körperhälfte geschlechtslos.

Nicht nur die fehlende Weiblichkeit macht Silber Probleme. Auch die Vorliebe ihrer Schwester, Männer aufzufressen.

Der erste lange Spielfilm der Regisseurin Agnieszka Smoczynska ist ein Wagnis. Für die oft blutrünstigen Szenen werden die Zuschauer mit poetischen Gesangseinlagen, glitzernden Bühnenshows und kunstvollen Kameraeinstellungen entschädigt.

So animalisch die Nixen in ihrer ursprünglichen Form, mit Fischschwanz und gelben Fangzähnen sind, so verführerisch unschuldig sind sie als zweibeinige Frauen.

Ausgezeichnet wurde „Sirenengesang“ unter anderem mit dem Spezialpreis der Jury des Sundance Filmfestivals.

 

Kamerakünstlerin Karina Kleszczewska: „Manchmal braucht das Publikum eine Schock-Therapie“

 

Karina Kleszczewska gehört zu den wenigen Meisterinnen der Kamerakunst in Polen. FilmPOLSKA hat ihr und Jolanta Dylewska dieses Jahr einen Schwerpunkt gewidmet. Ein Gespräch über die manchmal notwendigen Schock-Momente im polnischen Kino und über das Selbstverständnis einer Kamerakünstlerin.

„Wie schwierig ist es als Frau in einem Männerberuf“? – Wie oft hören sie diese Frage und nervt Sie das? 

Ich spreche nicht gerne über dieses Thema, ich will nicht wie ein Opfer klingen. Es ist eben so. In der Filmbranche sind Kamerafrauen selten, auch oder besonders in Polen. Darüber aber nur zu reden würde auch nichts ändern.

Doch warum sind ihrer Meinung nach Kamerafrauen so selten? Was ist das größte Vorurteil?

Dass man körperlich stark sein muss, um eine Kamera bedienen zu können. Das ist aber nicht so. Das Filmen ist vielmehr eine Frage der Vorstellungs- und nicht der Muskelkraft.

Ein weiteres Vorurteil ist, dass das Filmen ein sehr technischer Beruf ist. 

Natürlich hat der Beruf als Kamerafrau viele technische Elemente. Aber ich selbst habe mich nie als Technikerin gesehen. Für mich war immer klar, dass ich Kunst machen möchte. Meine Arbeit habe ich immer kreativ verstanden.

Wie und warum haben Sie mit dem Filmen angefangen? 

Als ich etwa neun Jahre alt war, habe ich eine Fotokamera von meinem Vater geschenkt bekommen. Seitdem wollte ich immer Fotografin werden. Früher konnte man aber in Polen Fotografie nicht alleine studieren. Also musste ich quasi zum Film. Ich habe es aber nie bereut.

Aber Filmregisseurin wollten sie nie werden? 

Nein, daran hatte ich kein Interesse. Menschen, die Bilder machen, haben eine ganz andere Vorstellungskraft als die, die Geschichten erzählen. Regisseure sind eher Psychologen: sie spielen mit den Menschen, mit den Schauspielern, dem Team. Als Kamerafrau zu arbeiten ist für mich eine viel bessere Position. Ich erschaffe die Bilder, aber muss mich nicht mit den Produzenten oder den Schauspielern rumschlagen (lacht).

Welches Verhältnis haben Sie zu den Regisseuren? 

Das ist sehr unterschiedlich. In Polen haben die Kameramänner und -frauen eine sehr starke und wichtige Position. Aber das hängt sicher stark vom Regisseur oder auch vom jeweiligen Kamerakünstler ab. Wenn sich der Kameramann nicht so stark einbringen möchte in den kreativen Part, dann muss er das nicht. Dann kann er einfach tun, was ihm gesagt wird. Aber ich war nie so. Ich wollte mich schon immer von Anfang bis Ende in den Prozess einbringen.

In einem ihrer Filme „der Unbewegte Beweger“ geht es auch um eine Frau. Sie wird von einer Gruppe Männer vergewaltigt. Die Geschichte basiert auf einem wahren Fall, der in Polen als Sex-Skandal durch die Medien ging. Warum war Ihnen die Geschichte so wichtig? 

In Polen gibt es viele Menschen, die sagen, dass das Mädchen selbst Schuld an der Vergewaltigung ist. Sowas ist totaler Bullshit! Als in unserem Film die junge Frau auf der Polizeistation ist, um die Männer anzuzeigen, wirft man ihr auch vor, sie habe durch ihre freizügige Kleidung die Tat selbst provoziert. Wir wollten niemanden verurteilen, aber dem Publikum einen Spiegel vorhalten.

In dem Film nutzen Sie eine sehr explizite Bildsprache. Warum? 

Wir wollten die Menschen zum Nachdenken bringen. Dafür mussten wir das Publikum durch sehr eindeutige Bilder schocken. Die reale Geschichte ist so gewalttätig, darüber konnten wir keinen netten Film machen. Dabei sieht man die gewalttätigen Szenen gar nicht wirklich. Wir zeigen nur: Da ist ein Mädchen, sie wird vergewaltigt. Der Zuschauer sieht nur eine Nahaufnahme von ihrem Gesicht. Dabei stellen wir die Frage: Wie fühlst du dich, als du die Träne in dem Auge des Mädchens gesehen hast? Ich glaube anders hätte dieser Film nicht funktioniert. Dann wäre er nicht so energetisch.