Rezensionen

Die Venus im Pelz

Wie nach einem Startschuss prescht die Kamera nach vorne. Quer durch eine von Bäumen umkränzte Pariser Promenade vorwärtsrollend und von Schlaginstrumenten begleitet, biegt sie nach einigen Metern rechts ab und wird durch die Türen eines Theaters geschleust. Drinnen telefoniert der Bühnenautor und Regisseur, Thomas Novacek (Mathieu Amalric), als gerade eine durchnässte blonde Frau eintritt. Von da an spielt die auf David Ives Theaterstück basierende Handlung ausschließlich im begrenzten Innenraum zwischen Zuschauerrängen, Bühne und Kulisse, die Roman Polanski sehr geschickt inszeniert. Ständig schafft er neue Einstellungen von der facettenreichen Emmanuelle Seigner, die abwechselnd eine schlampig-vulgäre Schauspielerin und lebensechte Verkörperung von Sacher-Masochs Romanfigur, Wanda, gibt.

Mit ihrem rüpelhaftem Jugendslang stößt sie zunächst auf Abneigung des Regie führenden Thomas. Er ist von einem gescheiterten Casting entnervt und will nach Hause. Als sie in ihr Kostüm schlüpft und ihre ersten Zeilen rezitiert, gerät er aus der Fassung: Hat er es etwa mit einer Erscheinung der göttlichen Venus zu tun? Kurze spannungssteigernde Musikeinsätze unterstreichen seine wachsende Faszination für die schöne Blonde, die ihn peu à peu um den Finger wickelt bis er seiner eigenen Phantasie zum Opfer fällt.

Immer wieder hält Wanda im Text an und kommentiert das Stück in derber Sprache. Es gehe doch um Kinderschändung und Misogynie und im Grunde genommen stehe Thomas nur auf den griechischen Aristokraten mit dem weißen Schimmel, von dem im Stück die Rede ist. Die ambivalente Figurenzeichnung Wandas eröffnet dem Zuschauer eine Metaebene, die Sacher-Masochs Werk von 1870 zur Diskussion stellt. War er ein Frauenhasser? Thomas möchte, dass die endlosen soziologischen Erklärungsversuche unserer Zeit aufhören. Polanski, der seiner Protagonistin die Psychoanalysten-Brille aufsetzt, sie  in SM-Latexanzug kleidet, und zum Schluss sogar auszieht, scheint nicht viel von eindimensionalen Interpretationen zu halten. Er legt verschiedene Fährten und sogar die Schlussszene ist voller Ambiguität: Nackt, nur das Nötigste hinter einem Zobelfell verbergend streckt Emmanuelle Seigner – Roman Polanskis Ehefrau –  die Zunge aus. Ihre Fratze erinnert an gotische Wasserspeier. Im Strahl eines Scheinwerfers, umhüllt von Rauch, vollzieht sie einen antikisierenden Tanz und wirkt dabei unheimlich ironisch, wenn nicht sogar zum Lachen komisch.

 

Text: Raphaël Rück

 

F/PL, 2013; R: Roman Polanski; D: Emmnauelle Seigner, Mathieu Amalric

Artes Bericht beim Festival von Cannes 2013:

 

 



Schwimmende Wolkenkratzer / Płynące wieżowce

KINÓWKI.pl

Michał (Bartosz Gelner), ausgesprochen Micha-u-l mit einem kratzigen „ch“ – wie wenn Schweizer hochdeutsch sprechen oder Spanier „hello“ sagen – so heißt das Objekt der Begierde im zweiten Spielfilm des 34-jährigen polnischen Regisseurs Tomasz Wasilewski. Der Schönling gleicht Hurd Hatfield in Das Bildnis des Dorian Gray von 1945 und seine Anziehungskraft schöpft aus der gleichen Trickkiste: Kantiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, dunkle Augen, perfekter Seitenscheitel, ein wenig wie der idealisierte Westler in einem japanischen Manga. Seine blonde und blauäugige Kontrahentin namens Sylwia (Marta Nieradkiewicz) könnte ihrerseits Kalender-Girl sein und wird wie eine Trophäe von Leistungsschwimmer Jakub liebkost, der mit ihr und seiner Mutter in einer kleinen modernen Warschauer Wohnung wohnt. Doch Sylwias „Kuba“ verfällt entgegen allen Regeln und Zukunftsplänen dem Charme des hübschen Jünglings. Bei einer Vernissage sieht sie von Anfang an misstrauisch dabei zu, wie er sich Michał knabenhaft scherzend annähert. Später versucht sie ihn von einem überstürzten Wiedersehen abzuhalten, verbringt sogar ein bloßstellendes Camping-Wochenende mit beiden und will es doch nicht wahrhaben: Sie  glaubt weiterhin standhaft an die Übermacht des heterosexuellen Modells. Als alles auffliegt, das mütterliche „du kannst mir das nicht antun“ gefallen ist und Sylwia mit einer angeblichen Schwangerschaft ihren letzten Trumpf ausspielt, macht Jakub, was er am besten kann. Er taucht unter.

Unter Wasser

In der Anfangsszene klingt die Tonkulisse der Unterwasseraufnahmen von Schwimmern herrlich dumpf und Bass-lastig. Eine ähnliche Atmosphäre versprühen auch die mit elektronischer Musik unterlegten nächtlichen Streifzüge der beiden Männer durch Warschau: In Slow Motion (sie sind von Marihuana benebelt) fahren sie wie im Kreis Etage für Etage in einem Parkhaus ab. Etwa in der Mitte des Films bleibt Jakub während eines Wettkampfs auf halber Strecke stehen. Der Ton wird zum Spiegel seines inneren Wandels. Man hört die Zuschauer am Rande des Beckens ihren Favoriten anfeuern. Die Geräusche der Außenwelt verstummen allmählich und als wäre die Verbindung zwischen ihm und der Gesellschaft, in der er sich bisher bewegte, gekappt worden, vernimmt man plötzlich nur noch sein lautes Ein- und Ausatmen.

Wasilewskis Verquickung von Sylwias stummen Leid, Jakubs introvertierter Verzweiflung und Michals offenerem Identitätskampf setzt den Zuschauer einem enormen psychologischen Druck aus. Selbst schwul und stark von dieser Geschichte betroffen, habe ich mich auch ein Tag nach der Sichtung nicht von diesem Film erholt.

 

 

Text: Raphaël Rück

„Ich mache keine heiteren Filme“ – Tomasz Wasilewski im Porträt

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„Die Journalisten haben mich falsch verstanden oder wollten es falsch verstehen“, sagt der warschauer Regisseur Tomasz Wasilewski und nippt an seinem Pinot Noir. „Natürlich ist mein Film ein LGBT-Film, aber er ist es eben nicht nur. Nur weil er der erste dieser Art ist, müssen sich nicht gleich die Medien darauf stürzen und ihm zum ersten LGBT-Film in Polen deklarieren.“ Wasilewski lässt seine Arbeit nicht gerne in Kategorien stecken. Sein Blick schweift von den Tischen am Gehweg ab in die Linienstraße und folgt den aufgekratzten Menschen, die vorbeiziehen, bereit für eine Partynacht in Mitte. Es ist Freitagabend.

Wasilewski ist seit knapp zwei Stunden in Berlin. Sein Film „Schwimmende Wolkenkratzer“ ist eines der Highlights der diesjährigen filmPolska. Direkt vom Flughafen Tegel fuhr er ins Kino Babylon um sich im Publikumsgespräch die Kommentare der Zuschauer anzuhören und Fragen zu beantworten wie: „Warum ist Ihr Film so düster?“, „Warum gibt es kein Happy-End?“, „Mit Happy End hätte mir der Film besser gefallen“. Wasilewski hört zu, nimmt die Fragen ernst , obwohl er sie schon so oft gehört hat. Dann sagt aber doch fast trotzig: „Ich mache keine heiteren Filme. Es wird von mir niemals einen Film mit gutem Ausgang geben.“ Punkt.

„Schwimmende Wolkenkratzer“ geht durchaus nicht gut aus. In dem Psychodrama, seinem zweiten Spielfilm überhaupt, sind alle Figuren auf der Suche nach der eigenen Identität. Im Fokus steht Kuba. Er ist Leistungsschwimmer, seit zwei Jahren mit Sylwia zusammen und wohnt mit ihr bei seiner Mutter Ewa. Mit einem Schwimmkollegen trifft er sich regelmäßig zum Oralsex in der Toilettenkabine. Kuba ist nicht glücklich.

Als Kuba Sylwia eines abends zu einer Galerieeröffnung begleitet, trifft er auf Michal. Es funkt. Die beiden beginnen eine Beziehung. Doch es ist eine Dreiecksbeziehung, denn Sylwia bleibt ohne dass Kuba sie verlassen würde. Sie bleibt auch dann, wenn sie mit ihnen im selben Zelt liegt und die beiden wenige Zentimeter von ihr entfernt Sex haben. Warum tut sie sich das an? „Sylwia liebt Kuba. Sie kämpft und ist bereit dies bis zum Ende zu tun“, Wasilewski, 34, rückt seine Ray-Ban-Brille zurecht und lehnt sich vor: „Der Grund, warum sie bleibt und es aushält, ist ganz einfach: Liebe“.

Wasilewskis Film lief bereits erfolgreich beim London Film Fest, Tribeca Festival, Melbourne Queer Festival und nun auch bei filmPolska. „Mittlerweile glaube ich, dass ich lieber Sylwia in den Fokus gestellt hätte“, antwortet er auf die Frage, warum Kuba die Hauptfigur der Geschichte ist. Jede Figur seines Filmes ist tief, jede hat eine Geschichte zu erzählen. Jede ist auf der Sinnsuche. „Als ich begann das Drehbuch zu schreiben, wollte ich den Film über eine Mutter-Tochter Beziehung machen. Bei jeder neuen Fassung des Drehbuchs habe ich den Fokus verändert. Aus Tochter wurde Sohn.“ Aus Drama wurde ein Psychodrama mit gesellschaftlicher Relevanz. Homosexualität ist im katholischen Polen ein schwieriges Thema. Ein Grund, weshalb sich Wasilewski für diese Thematik entschieden hat, war die Veröffentlichung eines Zeitungsberichts, in dem die Anzahl von Gewaltausübung gegen Homosexuelle – psychisch und physisch – bekanntgegeben wurde. Die Zahl ist hoch.

„Wir konnten den Trailer nicht in der U-Bahn zeigen, da uns gesagt wurde, dass der Film die Gefühle der Leute verletzen könnte.“ Er holt sein Handy raus und zeigt das Filmposter, das für die Filmpromotion in Polen verwendet wurde. Michal und Kuba Stirn an Stirn, warme Farben, homoerotisch. Man erwartet eine Love-Story mit viel Kitsch. „Wenn ich an den Film denke, denke ich nie, dass es ein Schwulenfilm ist. Wenn ich mir Menschen angucke, dann spielt das Geschlecht, das Alter, die Religion, keine Rolle“. Der Film ist alles: Drama, Liebesgeschichte, Coming-Out-Film. Eben nicht nur LGBT.

Die Regisseure Bodo Kox und Magdalena Różańska ziehen am Tisch vorbei, auch ihre Filme laufen auf dem Festival. Wasilewski ruft ihnen hinterher. Sie kommen an den Tisch. Ob man sich nachher auf der Festivalparty im Ackerstadtpalast treffe? Selbstverständlich. Sie verabreden sich zusammen hinzugehen.

Wasilewski studierte and der renommierten Filmschule in Lodz. Danach folgten Regieassistenzen beim Enfant Terrible Lars von Trier und Małgorzata Szumowska, deren „Im Namen des…“, ein Film über Homosexualität im Katholizismus, letztes Jahr die filmPolska eröffnete. „Schwimmende Wolkenkratzer“ ist ein rauer Film. Brutal, quälend, unangenehm. Wasilewski beeinflussten Triers „Melancholia“, McQueens „Shame“ und Arnolds „Fish Tank“. Düstere Filme, in denen Figuren in der Krise, in Grenzsituationen mit offenem Ausgang sind. „Ich weiß nicht warum, aber ich mag harte, schwierige Filme. Es war mir wichtig lange Szenen im Master Shot zu haben, um alles so authentisch wie möglich zu darzustellen. Der Zuschauer ist so nah dabei, dass sie Zeuge werden, sie fühlen mit.“ Sein Film soll das Publikum beschäftigen, eine Langzeitwirkung entfalten, die laut ihm mit Happy-End niemals möglich wäre.

Wasilewski ist ein positiver Mensch. Er genießt das Leben, seinen Beruf, die Städte, die er besucht. „Ich merke gerade wieder, Berlin ist großartig“, er blickt sich um. Ein schwarzer Labrador ist mit seinem Herrchen auf dem Gehweg und springt fröhlich fremde Leute an. „Ach, hätte ich meinen Hund mitnehmen können“, er ruft dem Hund zu, dreht sich wieder zurück und trinkt einen Schluck Wein. „Vielleicht werde ich nach Berlin ziehen. Für einen Sommer oder auch ein Jahr.“ Der harte Berliner Winter würde ihn nicht abschrecken. In Warschau ist es härter, grauer, kälter. „Nach meinem ersten Film ‚In a Bedroom’ haben Kritiker geschrieben, dass Warschaus Architektur zum ersten Mal ‚schön’ dargestellt wurde.“ Auch in „Schwimmende Wolkenkratzer“ spielt die Stadt und Urbanität eine große Rolle. „Ich liebe Betonbauten und ihre Architektur. Nach der Kinokunst, ist Architektur meine Lieblingskunstform.“ Die Bilder im Film sind poetisch, mal traurig, mal radikal entblößend. Kamerafahrten durch Tunnel und Parkhäuser stellen die Gedankenströme der Figuren dar. „Beton spiegelt das Innere der Charaktere wieder. Sie sind verloren an diesen rauen und unangenehmen Orten. So wie die Autobahn die ich genutzt habe. Autos fahren ohne Unterbrechung vorbei, wie die Gedanken, die permanent durch Kubas Kopf rasen.“ Wasilewski hat sich für die Cinematografie das Kameratalent Jakub Kijowski ins Team geholt, der ebenso zur diesjährigen filmPolska geladen wurde. „Ich habe immer schon alle Ideen im Kopf. Ich brauchte Jakub, um die Ideen umzusetzen. Die besondere Farbsättigung war seine Idee. Die Haut der Schauspieler sollte wie Silber aussehen. Ich liebe den Look des Films.“ Neben der aufwühlenden Geschichte, sind es vor allem Kijowskis Bilder, die in dem Film hervorstechen.

Das Weinglas ist leer, es ist Zeit weiterzuziehen. Kox und Różańska samt hipper und aufgedrehter Entourage sind zurückgekehrt. Während Wasilewski die Torstraße entlanggeht, bespricht er mit seinem Gästebetreuer den Ablauf des kommenden Tages und den Weg zurück zum Hotel. Dieses befindet sich glücklicherweise über der Bar, in der Linienstraße unweit der Party. An der Bar im Ackerstadtpalast bestellt er Wodka und freut sich, als er das Flaschenetikett sieht: „Sie haben polnischen Wodka.“ Die Nacht verheißt lang zu werden.

 

Text: Laura Varriale

 

 

Radikale Alltäglichkeit

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Die Kamera tastet das Panorama einer schmutzigen, winterlichen Industrielandschaft ab. Grauer Beton, glänzender Stahl, rauchende Schornsteine. In der nächsten Einstellung sehen wir einen älteren Mann auf einer Liege in einem Arztzimmer. Er ist dürr und ausgemergelt, sein Gesicht ist eingefallen und gegerbt. Es fällt schwer sein genaues Alter zu schätzen. Der Mann wird in unterschiedlichen Situationen gezeigt. Wie er Haferschleim kocht zum Beispiel. Oder durch die kalte Industrielandschaft schleicht. Oder nachts ruhelos im Bett liegt.

Dann ist plötzlich eine dunkelhaarige Frau mit einem Kleinkind da. Sie scheint jünger zu sein als der Mann. Sie sitzen zusammen am Esstisch in der Küche. Er isst Haferschleim. Sie Cornflakes. Die Frau wird in unterschiedlichen Situationen gezeigt. Wie sie sich um den Haushalt kümmert zum Beispiel. Oder mit dem Kind auf den Spielplatz geht. Oder es säugt. Wir wissen nicht, wie sie und der Mann zueinander stehen. Auch nicht wo genau das Gezeigte spielt. Ich gehe von Polen aus. Schließlich läuft der Film im Rahmen des filmPOLSKA Festivals.

Einige der Einstellungen gefallen mir. Die Aufnahme der zahlreichen Lichter an den Industrietürmen hinter den Rauschwaden bei Nacht zum Beispiel. Oder der Schwenk über den Kinderspielplatz, wo eine Schaukel im Hintergrund ein tiefes, wogendes Quietschgeräusch von sich gibt, während ein Kind darauf schwingt. Überhaupt ist das Sounddesign von kleinen Details aus den Bildern gekennzeichnet, welche so laut hervorgehoben werden, bis sie den Klangraum auf fast bedrückende Weise ausfüllen. Andere Einstellungen empfinde ich als unangenehm intim. Die Aufnahme der Frau während sie eine dreckige Klobrille mit Klopapier abwischt zum Beispiel. Oder wie sie in der Badewanne ihre Schamhaare rasiert. Die meisten Aufnahmen berühren mich überhaupt nicht. Dies mag daran liegen, dass die beiden Personen fremd bleiben. Sie sind in keinen narrativen Kontext eingebettet. Sie wechseln kein Wort miteinander. Auch sonst ist keine Interaktion zwischen ihnen zu erkennen. Dabei sind sie lediglich in kurzen Ausschnitten mit enger Kadrierung zu sehen. Man könnte dies als Cinéma Hyperréalité bezeichnen. Oder als belanglos.

Ab und an sind die verschiedenen Einstellungen durch assoziative Montage miteinander verbunden. Als die Kamera auf einem Kinderkarussell befestigt ist und sich in schwindelerregender Geschwindigkeit im Kreis dreht. Und anschließend auf eine riesige, horizontal rotierende Industriewalze geschnitten wird zum Beispiel. Die meisten Schnitte weisen keine ästhetische Verbindung auf. Wir könnten die Bilder mit einer eigenen Geschichte füllen. Oder in anderer Reihenfolge montieren. Die Frage ist, ob es einen Unterschied machen würde.

Mittlerweile ist vom Mann nichts mehr zu sehen. Auch vom Kind nicht. Nur noch von der Frau. Wie sie ein Motorradrennen in einem Stadion beobachtet zum Beispiel. Oder fern schaut. Oder Bus fährt. Die Busfahrt ist sogar in mehreren Einstellungen gelöst worden. Schließlich reißt sie in der Küche Lebensmittelpackungen auf und verteilt Nahrungsmittel über den Fußboden. Dort stapeln sich Spaghetti. Und Marmelade. Und Cornflakes. Milch fließt darüber. Wir sehen wieder den Mann in einer alten Fabrikhalle. Dann ist der Film zu Ende. Radikale Alltäglichkeit! War das gezeigte dokumentarisch oder inszeniert? Der Abspann weist auf letzteres hin. Kunst ist es ja sowieso.

 

Text: Henning Koch


 

Poland remind me of Haiti

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Kleine hässliche und furchteinflößende Puppen, die mit Stecknadeln malträtiert und mit Flüchen bespuckt werden. Schwarze Magie, die sich durch Blutopfer und Besessenheit kennzeichnet, um unschuldigen Menschen den Geist zu verwirren und diese zu quälen. Das sind Bilder, die dank des amerikanischen Horrorfilmes, beim Gedanken an Vodoo Zauber ausgelöst werden. Die Filmemacher Bartosz Konopka und Piotr Rosolowski meinen aber etwas völlig anderes: Vodoo sei eine uralte afrikanische Heilkunst, bei der ein durch die „Loa“ (freundlich gesinnter geistlicher Führer) auserwählter Priester mit Hilfe der Kommunikation zu Toten, die Probleme der Lebenden lösen möchte.

In ihrer semidokumentarischen Produktion „The Art of Disappearing“ (Original: Sztuka znikania) erzählt Amon, ein haitischer Vodoo-Priester, aus seiner Perspektive von der kommunistischen Volksrepublik Polen. Die Vorgänge in den 80er Jahren versucht er mit den Ritualen des Vodoos aus seiner Heimat zu verstehen und entdeckt dabei unzählige Parallelen zur Geschichte seines Vaterlandes, der Befreiung Haitis von der Skalverei vor 200 Jahren.

Der polnische Theaterrevolutionär Jerzy Grotowski holt Amon 1980 nach Polen und integriert ihn in sein Projekt des „armen Theaters“. Vier Monate verbringt Amon in der Republik, in einer Zeit der inneren Unruhe: die Solidarnosc Bewegung nimmt an Einfluss zu, die Partei zittert und Polen steht kurz vor der Ausrufung des Kriegszustandes – laut Amon sind die Menschen von einem Dämon besessen. Er stellt sich die Frage „how wake up polish people in communism?“ und sucht Antworten in der polnischen Spiritualität. Das Leiden der Menschen möchte er stoppen und ihren Kampf für die Demokratie und Freiheit mit seiner „Loa“ unterstützen. Um die polnischen „Zombies“ aufzuwecken, tritt er in Kontakt mit der polnischen Seele, deren Ursprung man in der Romantikepoche findet. Er kommuniziert mit dem Nationaldichter Adam Mickiewicz, der schon im 19 Jahrhundert für die Befreiung der Polen gegen das russische Regime gekämpft hat. Schlussendlich opfert er seine übernatürlichen Fähigkeiten in einer Vodoo Zeremonie für die Befreiung des polnischen Volkes – laut Zeugenberichten kehrt er als weißer Mann nach Haiti zurück.

„The Art of Disappearing“ ist eine Montage aus dokumentarischen Aufnahmen und historischen Originalbildern. Die klassische Dokumentation am Anfang wird immer mehr zu einer Collage, in der die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmt.

Den Helden des Filmes gibt es tatsächlich. Dieser wurde auf Umwegen von den Filmschaffenden gefunden. Ein italienischer Journalisten hat Amon während seiner Haiti Rundreise aufgespürt und ein Interview über die Erlebnisse des Vodoo Meisters veröffentlicht. Konopka und Rosolowski entdecken in diesem Interview außerdem auch eine Verbindung zu Grotowski. Basierend auf diesen Fakten rekonstruierten sie die polnische Geschichte und den Alltag der 80er Jahre auf eine bisher unbekannte und sehr kluge Art!

Die Kunst ist einerseits die Erzählperspektive und die haitische Interpretation der Vorgänge – so wird beispielsweise das polnische Erntedankfest im Warschauer Stadion des 10. Jahrestages mit einer Opferzeremonie in einem Vodoo Ritual gleichgesetzt. Es gibt keine Jahreszahlen und Namen, somit erhält der Film sich einen universalen Charakter. Andererseits aber erkennt man eine vielschichtige Tiefe – vorausgesetzt man besitzt den richtigen Schlüssel um die polnische Kultur und Geschichte darin wiederzuerkennen. Dann kann man eine breite Palette an Intertextualität, Bezüge zur polnischen Literatur der Romantikepoche („Die Totenfeier“ Original: Dziady) und zum Messianismus erkennen. Aber mit oder ohne Schlüssel, man erhält auf jeden Fall einen großartigen und bewusstseinserweiternden Einblick in die polnische Spiritualität und Seele.

 

Text: Oliwia Blender

 

The Art of disappearing (Sztuka znikania), 2012, Regie und Drehbuch: Bartosz Konopka, Piotr Rosolowski, 51 Min., Kamera: Piotr Rosolowski

 

 

 

Interview mit Bartosz Konopka

 

On friday night, Bartosz Konopka and Piotr Rosolowski have been in the AckerStadtPalast to present

their documentary film “The Art of Disappearing.” I had the great opportunity to talk to Bartosz Konopka, a very humorous and open person, that obviously put heart and soul into this movie.

Mr. Konopka, where did the idea of making this unusual film, which contains documentary as well as fictional features, come from?

We wanted to present a different perspective on a certain historical event, that is, in this case, a complete stranger visiting Poland in the 80s, a tragic, but at the same time successful decade of Polish history. Because there are so many films and books already made about what happened, we wanted our documentary to be more refreshing. Actually, the structure of the film reflects our process of understanding the Haitian voodo priest Amon Fremon. At the beginning, we tried to find out as much as we can about him, but as we visited Haiti and got to know the people and the voodoo cult there better and better, we realized that maybe Amon would have wanted us to make the film more about his spiritual than physical existence.

Speaking of putting yourself into Amon’s position: what have been the challenges trying to picture his experiences in Poland?

The biggest challenge but also the most interesting one was to keep the balance between

On friday night, Bartosz Konopka and Piotr Rosolowski have been in the AckerStadtPalast to present

their documentary film “The Art of Disappearing.” I had the great opportunity to talk to Bartosz Konopka, a very humorous and open person, that obviously put heart and soul into this movie.

Mr. Konopka, where did the idea of making this unusual film, which contains documentary as well as fictional features, come from?

We wanted to present a different perspective on a certain historical event, that is, in this case, a complete stranger visiting Poland in the 80s, a tragic, but at the same time successful decade of Polish history. Because there are so many films and books already made about what happened, we wanted our documentary to be more refreshing. Actually, the structure of the film reflects our process of understanding the Haitian voodo priest Amon Fremon. At the beginning, we tried to find out as much as we can about him, but as we visited Haiti and got to know the people and the voodoo cult there better and better, we realized that maybe Amon would have wanted us to make the film more about his spiritual than physical existence.

Speaking of putting yourself into Amon’s position: what have been the challenges trying to picture his experiences in Poland?

The biggest challenge but also the most interesting one was to keep the balance between documentary and fiction and to really get into Amon’s mind. To be honest, today we think we should have gone much further into the spiritual side and visit Haiti for a second time with our rough material and find out about some voodoo priest’s perspective on what we did. How could we speak of this person by fictionalizing his situation, what could have happened and what kind of thoughts could have run through his head? In the middle of the film, Amon goes on a spiritual journey and is guided by Adam Mickiewicz, who leads him into the spirit of Polish mythology. We had so many versions of how to show this but we could only use some very general metaphoric material to reconstruct it in order to avoid a realistic kind of film making. This was also very complicated.

While trying so hard to see Poland through Amon’s eyes, did your own view on Polish history change, did Amon actually influence you?

Yes sure, that’s the reason why we looked for a different perspective, in order to have to think completely the other way round. In the film, you have some observations of how people behaved in the 80’s, for example, standing in cues in front of the shops. He understood it in a different, funny way. The harvest celebration was a key element for us and for the film. It’s a ritual we know very well in Poland: looking at the archive footage with those dancing ladies in dresses giving prudes, it’s simply amusing, but to see it from Amon’s perspective, it was kind of terrifying. He caught it as a ritual demonstration and you saw that it might appear to be dangerous somehow. Also, when he goes to Gdansk while the big strike is going on, he feels that something wrong is in the air. He knows from history that there is a danger when so many people gather, that they wake up the bad spirits.

And then, he decides to help the Poles by practicing a voodoo ceremony. But how did it feel like to show key elements of Polish history in the way the film does to an international audience that doesn’t know it so well. How did they react?

For foreigners, it is not easy to link the pictures in the film with Polish history. We were thinking about to put in some dates, but then we realized that this just isn’t this kind of story. It’s ought to be foggy, just like Amon felt digging into the spirituality of the Polish past. It’s a different kind of history lesson. It was easy for the voodoo priest to help the people by working magic, because in this period, the air in Poland was also very magical: everyone was praying, calling the spirits and god. The viewers might see that this famous rural Polish Catholicism now has a different kind of power, which is more about being strong and making a revolution. Some people said the Poles were crazy with their history and we were crazy as film makers to make such a film. But for us, it was a very interesting journey into Polish mythology and romanticism, we didn’t expect that it still exists so strongly in our veins, this great need to work magic. We wanted to call the Polish spirits again and show them on the screen. It was very exciting for us.

What was more interesting for you: picturing the history of Poland by choosing footage from archives or diving into Amon’s character and trying to illustrate his experiences?

Well, it’s both, because by diving into his story, in the end, we found out that Polish spirituality and romanticism is a key element of our history. This whole spirit of Poland is that the nation has to suffer in order to become superior. We learned it in school and since the beginning of the 20th century this was very strong. This romanticism was the reason for the heroism of Polish soldiers, who have learned that they have to sacrifice themselves; it’s about showing the other nations that we can fight. For instance, those people of the Warsaw uprising have been suicidal, but they did what they did because they believed in some continuation of Polish fate and that sacrificing their life for the next generation is the biggest sacrifice they can make. The generation of the 80’s with Lech Walesa and the solidarity movement was also aware of this power: they were convinced about what they did because they were confident about having the Polish spirit behind their necks. This kind of spiritual power was very strong and still is. I forgot about it, but it was coming back to me while making this film. We just had to show it to the world, because it is probably the most original and interesting aspect of Polish culture that we have.

Thank you very much for your time and answers, Mr. Konopka.

 

Das Interview führte Agata Czamanska

 

 

 

 

Fragmente des Menschseins

 

Anka und Wilhelm Sasnal, in Polen vor allem aus der Kunstszene bekannt, haben mit ihrem dritten Langfilm „Parasite“ ein eindringliches und zärtliches Portrait des Menschseins geschaffen. Essayistisch nähert sich der Film mit einer fast losgelösten Kamera an drei Menschen an, die in einer polnischen Industriestadt leben: Ein greiser Fabrikarbeiter, der mit knöchernem Körper seine täglichen Routinegänge durchläuft. Eine Frau, gerade Mutter, geworden und ihr hilfloser Säugling.

Das schwere Atmen des alten Mannes verbindet sich mit dem Tagesanbruch. Fabriken, die in den Himmel wachsen, Schornsteine, die unaufhörlich rauchen, bilden die Kulisse der engen Wohnung, die er mit einer Frau – wahrscheinlich der Tochter – und ihrem Baby teilt. Die Kommunikation läuft wortlos. Einzig der Säugling schreit und bedarf der Hilfe von beiden. Essen wird zu einem Mittel, die eigene Existenz aufrechtzuerhalten oder sie zu kommentieren: Der alte Mann zwingt sich und seinen ausgetrockneten, von jahrzehntelanger Arbeit geschundenen Körper zu einem Schluck Wasser oder bereitet sich fast mit letzter Kraft einen weißlichen Brei zu, dessen Blubbern seine Tagesroutine einleitet. Die Frau – im Kampf mit ihrer Rolle als Mutter – kaut selbstvergessen mit abschweifendem Blick an ihrem Abendessen. Der spürbaren Enge versucht sie mit Gesten, nicht mit Worten zu entkommen. Cornflakes werden aus der Tüte in den Mund geschoben, während das Gesicht vom laufenden Fernseher halb verdeckt und bunt beleuchtet wird. Spaghetti werden trotzig in den Rachen gestopft oder landen auf dem Boden, wo sie sich wurmartig zu winden scheinen.

Ungewohnte Ausschnitte und Perspektiven werden von Alltagsgeräuschen auf der Tonspur ergänzt oder kommentiert. Manchmal ist nur eine Schulter im Bildrand zu sehen, die sich bei der Zubereitung von Essbarem rhythmisch bewegt. Der Säugling weint. Nackt auf dem bloßen Körper der Mutter, der hügelig wie eine Landschaft wirkt, findet er die Geborgenheit, die er einzufordern weiß. Die Stelle, an der der kleine Körper auf den großen trifft, bewegt sich mit dem angestrengten Saugen des Babys.

 

 

Ausbruch aus der Monotonie

 

Der Mensch wird auf verschwimmende Bildausschnitte reduziert, fragmentiert und wirkt dadurch fast unerträglich nah. Bild und Ton verbinden sich organisch zu einem synästhetischen Spiel: Im Park ist das zähe, konstante Quietschen einer Schaukel zu hören. Kreisrunde Bewegungen nähren die gefühlte Monotonie, wenn ein fast schwindelerregender 360°- Schwenk immer wieder Mutter und Kind auf ihrem Weg durch den Park erfasst. Dann der Ausbruch: In einem Akt der Befreiung lässt sie das Baby zuhause und verbringt den Abend nicht als Mutter, sondern als Frau unter Massen von Menschen. Eine der zärtlichsten Szenen zeigt den Alten mit dem schlafenden Baby im Arm in der Badewanne. Wieder treffen zwei Menschen in ihrer nackten Existenz aufeinander und schließen den Kreis des menschlichen Daseins. Die Filmemacher geben keine in sich geschlossene Erzählung vor. Sie konzentrieren sich auf Bruchstücke.

 

Der Film wird dabei nie moralisch: Offen für eigene Gedanken und Empfindungen, fordert er mit seiner radikal eigenen Ästhetik gleichzeitig konventionelle Seh- und Hörgewohnheiten heraus.

 

Text: Deniz Sertkol

 

Huba/Parasite

PL 2014; R/B: Anka und Wilhelm Sasnal; 66 min, OmeU, dcp;

K: Wilhelm Sasnal; S: Beata Walentowska; D: Joanna Drozda, Jerzy Gajlikowski, Wojtek Słowik

 

Schnaps, Kippen, Punkrock

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„Bobry“ („Bieber“) von Hubert Gotkowski ist ein Feuerwerk scheppernder Punkmusik, saufender Jungs und jeder Menge Situationskomik. Im voll besetzten Club der polnischen Versager zündete am Samstag Abend jeder Witz und wurde mit lautem Lachen belohnt. Während des Festivals ist der Club die Homebase der polnischen Off-Kino-Szene. „Dieser Film wird nie im Kino laufen, nie auf DVD heraus kommen. Ihr seht ihn heute wahrscheinlich das erste und letzte Mal“, kündigte Adam Gusowski vom CPV den Film an. Wünschen würde man „Bobry“ und seinem jungen Regisseur Hubert Gotkowski aber die große Kinoleinwand. Der mit Kleinstbudget und von Hobby-Filmemachern gedrehte Film besticht vor allem durch eine skurrile, unaufgeregt inszenierte Geschichte und sympathische Figuren.

Passend zum Ort der Festival-Aufführung haben die drei Mitglieder der Band „Bobry“, Marcin, Klocek und Damian, noch nicht besonders viel erreicht in ihrem Leben Leben. Marcin ist sogar so verdrossen, dass er an Selbstmord denkt. Das wiederum – hallo Skurrilität – ruft den „Sensenmann“ und passionierten Rocker Kosiarz auf den Plan, der Marcin ins Jenseits überführen will. Marcin überlegt es sich jedoch in letzter Sekunde anders, sehr zu Kosiarzs Leidwesen, der mit Marcins Tod seine anstrengende Karriere hätte beenden können. Statt sich ins Jenseits zu befördern, beschließt Marcin mit seiner Band doch noch groß herauszukommen. Die ehemaligen Bandkollegen sind schnell überzeugt, der Weg zum Erfolg ist jedoch steinig. Zwar ist Marcin dem Tod von der Schippe – beziehungsweise aus dem Auto – gesprungen, doch damit fangen die Verstrickungen und Probleme auf Erden und im Jenseits erst an.

Schon während seines Informatik-Studiums hatte Hubert Gotkowski mit Freunden auf Parties gedreht und kleine Filme daraus geschnitten. Mit „Manna“ feierte er 2006 einen ersten großen Erfolg. Dem Regisseur Maciej Ślesicki gefiel „Manna“ so gut, dass er Gotkowski die Möglichkeit gab, eine professionelle Version des Films zu drehen. „Der Unterschied zwischen den beiden Versionen ist riesig. Und auf dem Set habe ich viel über das Filmemachen gelernt“, so Gotkowski. Trotzdem ist das Filmemachen bis jetzt ein Hobby geblieben. Seinen Lebensunterhalt verdient sich der Regisseur als Informatiker. Zwar genießt er die Freiheit des No-oder Low-Budgetfilmers, doch „mit einem Off-Film kann ich das, was ich im Kopf habe, nicht so umsetzen, wie ich es möchte. Es ist schon etwas anderes, mit Budget und professionellem Equipment zu arbeiten.“

 

Text: Gila Hofmann

 

Zum Begriff „Off-Kino“

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Bobry / Bieber

PL 2013; 97 min; OmeU; R/B: Hubert Gotkowski; B: Marcin Kabaj; M: Hubert Gotkowski; D: Wojciech Solarz, Robert Jarociński, Sebastian Stankiewicz, Kajetan Woniewicz, u.a.

 



Filmzensur im „Kino der moralischen Unruhe“

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Für zwei Monatslöhne hat der einfache Angestellte Filip Mosz eine 8mm Kamera erworben. Die ursprüngliche Intention, damit nur die Kindheit seiner Tochter bildlich festzuhalten, wird jedoch schnell von größeren Ambitionen abgelöst, als er von seinem Vorgesetzten den Auftrag bekommt, die Jubiläumsfeier des Werkes zu dokumentieren. „Alles, was sich bewegt“, lautet seine Antwort auf die Frage eines Kollegen, was genau er mit seiner Kamera filmen wolle.

„Der Filmamateur“ (1979) gilt als eines der bedeutendsten Werke des regimekritischen „Kinos der moralischen Unruhe“. Krzystof Kieślowskis satirische Studie über das Filmschaffen und die Bedeutung der Filmzensur in der Volksrepublik Polen ist dabei ebenfalls eine Reflexion des Regisseurs über seine eigene Tätigkeit. Ebenso wie sein Protagonist begann Kieślowski seine Karriere mit Dokumentarfilmen, in denen er das tägliche Leben einfacher Bürger und Arbeiter darstellte. Filip geht an diese Aufgabe ohne filmisches Fachwissen heran. Er richtet seine Kamera auf die Ehrengäste, Kollegen oder Tauben bei der Jubiläumsfeier und schneidet das Ergebnis im Anschluss zusammen. Doch ähnlich wie bei Kieślowskis Filmen, welche häufig nur in gekürzter Form oder überhaupt nicht aufgeführt wurden, kollidiert auch Filips ideologische und handwerkliche Naivität schnell mit der Zensur durch seinen Vorgesetzten. Dieser verlangt die Kürzung einiger Szenen, die beispielsweise Tauben auf einer Fensterbank oder die Bezahlung der Unterhaltungskünstler zeigen, weil diese ihm sinnlos erscheinen oder unerwünschte Hintergründe der Veranstaltung offenlegen.

Unterstützung erhält Filip von Anna Wlodarczyk, der Organisatorin eines Amateurfilmwettbewerbs, die in seinem Werk ein filmisches Potential erkennt. Sie hinterlässt einen faszinierender Eindruck bei Filip. Dies spornt ihn an, sich intensiv mit den Grundlagen der Filmgestaltung auseinanderzusetzen. Bemerkenswert ist, dass Filip sich bei seiner Tätigkeit nie als Künstler, sondern stets als Dienstleister (service provider) versteht. Mit seinen neugewonnenen handwerklichen Fähigkeiten dreht er ein Porträt über einen kleinwüchsigen Arbeitskollegen in seinem Werk. Doch erneut versucht sein Vorgesetzter, in seinen Film einzugreifen und untersagt ihm schließlich eine öffentliche Vorführung.

Mit beobachtender motivierter Kameraführung verdeutlicht Kieślowski in „Der Filmamateur“ das Potential, welches das Filmmedium besitzt. Filips Porträt des kleinwüchsigen Arbeiters wird schließlich im Fernsehen gezeigt und sein Darsteller ist von dem Werk tief berührt. Er empfindet, dass das Werk seinem Leben eine Würde und Bedeutung verliehen hat, welche er in dieser Form bisher nicht wahrgenommen hat. Vor allem aber stellt Kieślowski den Einfluss der kommunistischen Filmzensur in Polen in den Mittelpunkt. Versinnbildlicht wird die staatliche Reglementierung durch Filips Vorgesetzten, der in den politisch unmotivierten Aufnahmen eine Gefahr für das gesellschaftliche System zu erkennen glaubt. Als Konsequenz entlässt er schließlich einen Arbeiter, der das Filmschaffen begünstigt hat. Daraufhin sieht Filip sich genötigt, das weitere Filmmaterial zu vernichten.

Dieses systemkritische Element, welches der Vorgesetzte in den Amateuraufnahmen zu erkennen glaubt, ist für den Zuschauer vor allem aus heutiger Perspektive kaum noch nachvollziehbar. Aber vielleicht wollte Kieślowski durch das mangelnde Verständnis für die Motivation des Zensors auch die Willkür und den Unsinn der Filmzensur an sich herausstellen. „Der Filmamateur“ ist somit als Kommentar Kieślowskis zu seinem persönlichen Filmschaffen zu verstehen. Kurz nach Produktionsende 1979 gab er ebenfalls den Dokumentarfilm auf und wandte sich stattdessen ganz dem Spielfilm zu.

 

Text: Henning Koch

 

DerFilmamateur“; OT: „Amator“; PL 1979; R: Krzystof Kieślowski; 117 min; 35mm; OmeU

Schwimmende Wolkenkratzer (Płynące wieżowce); PL 2013; R/D: Tomasz Wasilewski; K: Jakub Kijowski; D: Katarzyna Herman, Mateusz Banasiuk, Marta Nieradkiewicz, Bartosz Gelner

 

 

Der Mann für besondere Stimmungen

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Ein cineastischer Streifzug durch Das Geheimnis  und Schwimmende Wolkenkratzer aus den Augen des jungen polnischen Kameramanns Jakub Kijowski

Seit seinem Bestehen setzt das filmPOLSKA einen besonderen Fokus auf die Kunst der Bilder. In Kooperation mit dem Arsenal werden jährlich zwei Kameramänner oder -frauen eingeladen und deren Werke präsentiert. Der Altmeister Jacek Petrycki (*1948), der unter anderem für Regisseure wie Krzysztof Kieslowski drehte, führte bereits bei über zweihundert Produktionen die Kamera und leitet dieses Jahr den Filmworkshop des Festivals. Der zweite Gast hingegen zählt zum künstlerischen Nachwuchs Polens. Jakub Kijowski (*1979) war erst an zwei Spielfilmproduktionen beteiligt. Das Geheimnis (Sekret, 2012) und Schwimmende Wolkenkratzer (Płynące wieżowce, 2013) zeigen jedoch ein vielversprechendes Talent beim Schreiben mit der Kamera.

In Schwimmende Wolkenkratzer befindet sich der homosexuelle Leistungsschwimmer Kuba in einer Identitätskrise. Zerrissen zwischen dem vorgeebneten Lebensweg mit seiner Freundin Sylwia und dem Abenteuer, das ihm die Begegnung mit seiner großen Liebe Michal verspricht, streift er bei Nacht durch eine indifferente städtische Landschaft. Der Film entwickelt dabei eine ganz eigene Dynamik im Wechselspiel aus agiler Bewegung und nachdenklichem Innehalten, aus abenteuerlichem Erleben und spannungsgeladenem Beobachten. Kijowskis Kamerahandschrift trägt hier essentiell zur Visualisierung der verschiedenen Stimmungen bei. Das kühle künstliche Licht der nächtlichen Aufnahmen in U-Bahn-Unterführungen, Parkhäusern oder Hinterhöfen unterstreicht die identitätslose Atmosphäre der urbanen Räume, die auf die Protagonisten abfärbt. Die durchgehend entsättigten Farben spiegeln die Monotonie der gesellschaftlichen Ordnung wider, in der kein Platz ist für einen abweichenden Lebensentwurf.

In Das Geheimnis besucht die Drag-Queen Ksawery mit einer jüdischen Freundin seinen Großvater in dessen abgelegenen Haus. Von Anfang an bilden die unterschiedlichen Stimmungen und Gefühle des Dreiergespann einen explosiven Molotow-Cocktail. Zur Wertschätzung und Liebe für den Opa mischt sich Ungläubigkeit und Ekel, als dessen dunkles Geheimnis aus der Zeit des Holocaust zu Tage tritt. Neben etwas zu platt ausgestellten filmischen Kunstgriffen, wie Solarisation, Jump Cuts oder Zeitraffern, ist es vor allem Kijowskis Kadrierung, die das Spektrum verschiedener Gefühlslagen evoziert. Bewusst setzt er die Bewegungen der Protagonisten ins Verhältnis zu ihrer Umgebung. Eine bis ins Detail inszenierte Mise en Scène erzeugt im Zusammenspiel mit verschiedenen Nuancen natürlichen Lichts malerisch anmutende Momente von Trauer, Einsamkeit, Verzweiflung, Wertschätzung und Lebensfreude.

Schwimmende Wolkenkratzer ist noch bis zum 30. April beim filmPOLSKA in verschiedenen Kinos in Berlin zu sehen und hat seinen deutschen Kinostart am 26. Juni 2014 unter dem etwas missglückten Titel Tiefe Wasser. Auf zukünftige Projekte von Jakub Kijowski  kann man nur gespannt sein.

 

Text: Nina Linkel

 

Das Geheimnis (Sekret) PL 2012; R/D: Przemysław Wojcieszek; K: Jakub Kijowski; D: Agnieszka PodsiadlikTomasz TyndykMarek Kępiński



Film als Psychotrip

 

Sławomir Shuty im Club der polnischen Versager

Als Amateur beschreibt sich Sławomir Shuty gerne. Mit diesem Understatement ist der Regisseur, Schriftsteller, Fotograf und Performance-Künstler mit den schlabberigen Jeans und der zerzausten Mähne im Club der polnischen Versager offensichtlich gut aufgehoben. „Das psychedelische Kino des Sławomir Shuty“, der Titel mit dem seine drei Filme angekündigt sind, komme nicht von ihm, sondern von einem Kurator, sagt er während des Publikumsgesprächs mit Moderator Adam Gusowski. Dennoch passt die Bezeichnung: Die klassischen Elemente des psychedelischen Kinos – halluzinogene Horrortrips, euphorische Allmachtsfantasien, erhöhte Wahrnehmung – finden sich in Shutys Filmen wieder. Vor dem Publikum, unter den bunten Lichtkonstruktion, die mit jedem Klatschen eine andere Farbe annimmt, wirkt er beinahe etwas verloren. Zum Glück steht ihm Adam Guskowski zur Seite, der mit den Worten: „Was ist Kultur ohne Geld? Immer noch Kultur. Was ist Kultur mit Geld? Kommerz“, das OFF-Kino und den Ort, an dem es präsentiert wird auf einen Nenner bringt.

In der sperrigen, zum Filmtheater umfunktionierten Bar ist die Projektion ebenso schräg wie der Inhalt der Filme. Warum gerade „Luna“ (2006), „Pokój“ (2011) und „Trip“ (2012) für filmPOLSKA ausgewählt wurden? Weil es die einzigen Filme mit englischen Untertiteln sind.

 

David Lynch meets Mumblecore

In dem Kollektivfilm „Luna“, den Shuty mit dem Cyrk z Huty (Zirkus Shuty) realisierte, wird die fiktive Reise durch Polens verlassene Ecken für vier trinkfeste Freunde zum grässlichen Alptraum. Alles fängt ganz harmlos an: Vier Männer, ein schwarzer Passat, kein Plan wohin.

In einem kleinen Laden wird Proviant gekauft und die feiste Blondine hinter der Theke angemacht. Die Stimmung kippt: Schnelle Schnittfolgen zeigen groteske Close-Ups auf sich windende Zungen, erweiterte Pupillen, blutverschmierte Äxte, Messer, Körperteile – kurzum verstörende Visionen, die aus einem David Lynch Film stammen könnten. Ob die Blondine später von den unsympathischen Anti-Helden umgebracht wird, bleibt unklar. Weiter geht die Reise Richtung Nirgendwo. Und Nirgendwo ist in diesem Fall das Haus eines alten Mannes, der sich niemals ohne Sonnenbrille zeigt. Er lädt die Freunde auf Tee, später Bier und Wodka ein und erzählt von einem magischen Ort, an dem etwas begraben liegen soll. So nimmt der Psychotrip eine erneute Wendung: Das Graben gleicht einem Bohren in der eigenen Psyche. Was dabei herauskommt? Reine Fiktion.

 

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Deniz Sertkol im Gespräch mit Slawomir Shuty,
Fotograf: Alexander Czekalla

 

In dem Kollektivfilm „Luna“, den Shuty mit dem Cyrk z Huty (Zirkus Shuty) realisierte, wird die fiktive Reise durch Polens verlassene Ecken für vier trinkfeste Freunde zum grässlichen Alptraum. Alles fängt ganz harmlos an: Vier Männer, ein schwarzer Passat, kein Plan wohin.David Lynch meets Mumblecore

In einem kleinen Laden wird Proviant gekauft und die feiste Blondine hinter der Theke angemacht. Die Stimmung kippt: Schnelle Schnittfolgen zeigen groteske Close-Ups auf sich windende Zungen, erweiterte Pupillen, blutverschmierte Äxte, Messer, Körperteile – kurzum verstörende Visionen, die aus einem David Lynch Film stammen könnten. Ob die Blondine später von den unsympathischen Anti-Helden umgebracht wird, bleibt unklar. Weiter geht die Reise Richtung Nirgendwo. Und Nirgendwo ist in diesem Fall das Haus eines alten Mannes, der sich niemals ohne Sonnenbrille zeigt. Er lädt die Freunde auf Tee, später Bier und Wodka ein und erzählt von einem magischen Ort, an dem etwas begraben liegen soll. So nimmt der Psychotrip eine erneute Wendung: Das Graben gleicht einem Bohren in der eigenen Psyche. Was dabei herauskommt? Reine Fiktion.

Das Zusammenkommen von Parallelwelten interessierte Shuty bei „Luna“ am meisten, sagt er mit sicherer Distanz über dieses relativ frühe Werk in seiner Filmografie. Musikalisch werden die Bilder mit elektronischen Klangmustern komplettiert, die von einem befreundeten DJ stammen. Das Zusammenspiel von Video und Audio erinnert an die Arbeiten von Chris Cunningham. Überhaupt, sei das Kollektive am Filmemachen essenziell. Das hat aber auch seine Nachteile: Einige Längen habe der 64-minütige Film für ihn noch, sagt er im Publikumsgespräch und nimmt sogleich die erste Kritik des Abends vorweg. Nach „Luna“ hat sich das ursprüngliche Publikum wesentlich verkleinert. Es sind besonders die surrealen Sequenzen, die den ansonsten handlungsarmen und zeitlich überdehnten Film retten. Aber vielleicht sind es gerade diese gefühlten Längen, die den psychedelischen Verlust von Zeitlichkeit spürbar machen.

Die Produktionsbedingungen des Films spiegeln sich in „Luna“ wieder, den Shuty mit Freunden an vier Tagen mit viel Bier und einem Drehbuch von nur einer Seite drehte.

Der titelgebende Trip soll dem animierten Sławomir Shuty helfen, auf neue Ideen zu kommen. Erst hackt er verzweifelt auf seine Schreibmaschine ein, dann beißt er in einen vielversprechenden Kuchen – bald läuft er durch einen Blätterwald und beginnt seine eigenen Arme vollzukritzeln. In einer Öko-Hütte trifft er auf zwei esoterische Gestalten und beschließt, die beiden zu engagieren. Der Kampf gegen die eigenen Dämonen wird hier im Gegensatz zu „Luna“ und „Pokój“ explizit und nimmt ein versöhnliches, wenngleich pointenarmes Ende.

In Zukunft wolle er weiter Richtung Animation gehen, sagt Shuty am Ende des Publikumsgesprächs.

In den kommenden Tagen hat sich der Filmemacher auch selbst vorgenommen im Publikum von filmPOLSKA zu sitzen: „Parasite“ von seinen Freunden Anka und Wilhelm Sasnal stehe ganz oben auf seiner Liste.

 

Text: Deniz Sertkol

 

Luna

PL 2006; 64 min; OmeU, digital; R: Cyrk Shuty

Pokój

PL 2011; 29 min; OmeU, digital; R: Sławomir Mateja, Maciej Bochniak; B: Sławomir Shuty

Trip

PL 2012; 11 min; OmeU, digital; R: Sławomir Shuty

 

 

Kino als Gegenbewegung

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Das Produzieren von Filmen um des Geldes wegen missfalle ihm, sagt Shuty im Interview. Sein „psychedelisches Kino“ ist eine Gegenbewegung dazu: Der zweite Film des Abends „Pokój“ (The Room) [Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=HRODgDGcGwo], ist eine Persiflage auf Scripted-Reality-Formate im Fernsehen. In diesem knapp 30 Minuten langen Film, will ein TV-Team mit großkotzigem Regisseur und unfähigen Kameraleuten das Haus eines Paares filmen. Im Fokus steht ein Raum, in dem es spuken soll. Während das zänkische Paar lächerliche Nebensächlichkeiten vor der Kamera re-inszeniert, bleibt die Schwiegermutter und Hauptzeugin verschwunden. Das Warten wird zur Zerreißprobe, die zum Scheitern verurteilt ist – der Regisseur gibt entnervt auf – und vereint die beiden Komponenten, die Shuty an den Beginn einer jeden Filmidee setzt: Komödie und Horror.

Der Filmemacher nimmt keinen Abstand zu klischeehaften Rollen und Konstruktionen – frustierte Wonderbra-Ehefrau trifft auf lüsternes Fernsehteam – und lässt ein polnisches X-Factor Making-Off in seiner vulgärsten Form exerzieren. Auch die stereotype Leiche im Keller wird nicht vermisst.„Pokój“ kam beim polnischen Publikum gut an. Das polnische Fernsehen lehnte eine Ausstrahlung aufgrund der hohen Schimpfwortfrequenz ab.

Der kürzeste und letzte Film des Abends ist stilistisch und inhaltlich ganz anders:

„Trip“, ein größtenteils monochromer Stop-Motion-Animationsfilm und Abschluss einer Trilogie ist zugleich Shutys persönlichster Film. Er handelt von einem Phänomen, das viele Kreative kennen: der Blockade.

 

Gegen die Wand

Was tun, wenn die Schuldfrage über allem steht und nicht mehr verdrängt werden kann? Wenn die Vermutung eines unaussprechlichen Verbrechens im Raum steht, obwohl der Großvater sonst so liebenswert ist? Der 30-jährige Ksawery steht vor der Frage: Konfrontation oder weitermachen wie bisher?

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Das Geheimnis“ („Sekret“) von Przemyslaw Wojcieszek behandelt ein dunkles Kapitel polnischer Nachkriegsgeschichte, die bis heute nicht aufgearbeitet ist. Nach Kriegsende zogen Polen in verlassene Häuser, in denen vorher Juden wohnten, die geflohen, deportiert oder umgebracht wurden. Wer als Überlebender zurückkehrte, fand sein früheres Zuhause oftmals von anderen bewohnt vor. Ihnen wurde der Zutritt verweigert, viele wurde enteignet, manche ermordet.

Nach dem Krieg zog Großvater Jan mit seiner Frau ins verlassene Nachbarhaus. Was dann geschah ist unklar. Er wurde angeklagt, den früheren jüdischen Bewohner und seinen Sohn ermordet zu haben. Die Anklage wurde fallengelassen.

Ksawery ist Drag-Queen, hat Auftritte im ganzen Land und fährt mit Freundin Karolina zu Jan in die Provinz. Karolina ist Jüdin und hat eine Mission. Sie will die Wahrheit erfahren, herausfinden was an dem Tag geschah als die Überlebenden zurückkamen und in ihr Haus wollten. Karolina ist still, redet kaum. Sie will, dass Ksawery den Großvater anspricht. Sie provoziert ihn, zitiert jiddische Verse. Ksawery, überfordert und zerrissen zwischen dem Drang nach Wahrheit und der Angst, was passieren könnte, wenn er das Schweigen bricht, zieht sich immer wieder zurück in die Natur. Er schwimmt, er übt mit Stilletos auf dem Feld seine Performance. Ksawery und Karolina besuchen Jan mehrmals. Schließlich wird das Schweigen gebrochen und sie fragen, was passierte, konfrontieren Jan mit seiner Vergangenheit. Jan wiegelt ab. Die Zurückgekehrten kamen für eine Nacht und sind im Morgengrauen wieder verschwunden, so sagt er. Ist es die Wahrheit?

Wenn Ksawery die Realität nicht aushält, zieht er sich Netzstrumpfhose und Pumps an. Er tänzelt auf Jans alter Veranda, schwingt sich lasziv übers Holzgeländer. Karolina schreit, dann ist sie wieder still. Der 80-jährige Jan wird aggressiv, dann hüllt er sich wieder in Schweigen. Zwischen ihnen lodert das Lagerfeuer vor dem Haus.

Die Geschichte wird mit hebräischen Texttafeln in Abschnitte unterteilt. Es sind Songtitel von Madonna. Zeitraffer, in denen Karolina und Jan abwechselnd unter Begleitung von lauten Elektrobeats einen Fisch sezieren, eine Anlehnung aus einem Depeche Mode Video, unterbrechen die qualvolle Suche nach der Wahrheit. Der Fisch wird gründlich ausgenommen, bis das Fleisch frei von Gräten ist. Karolina und Ksawery versuchen Jans Vergangenheit auszunehmen, doch der Kern der Wahrheit bleibt hier unerreicht.

Elemente der Popkultur mit den Gräueltaten der Menschheitsgeschichte zu verbinden, ist ein interessanter Ansatz. Doch die Popzitate wirken aufgesetzt, reihen sich nicht so fließend in die Erzählung ein wie die wiederkehrenden Szenen von Ksawery, in hautengem Kostüm, mit Glatze und dunklem Glitzer wie ein Schleier über dem Gesicht, im Scheinwerferlicht auf der Bühne. Er bewegt sich gefühlvoll, drückt das Leid, den Schmerz, die innere Zerrissenheit im Tanz aus. Er wirft sich gegen eine Wand am Bühnenrand. Eine Wand, die er nicht durchbrechen kann.

 

Text: Laura Varriale

 

Regie und Buch: Przemyslaw Wojcieszek, Kamera: Jakub Kijowski, Musik: Krzyzstof Prętkiewicz, Schnitt: Daniel Zioła, Darsteller: Tomasz Tyndyk, Agnieszka Podsiadlik, Marek Kępiński, PL 2012, 82min



 

„Was, wenn es keinen Gott gibt?“

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Die dunklen großen Augen blicken starr geradeaus, es ist keine Gefühlsregung im Gesicht der jungen Novizin Anna ablesbar. Als sie erfährt, dass sie Ida Lebenstein heißt und Jüdin ist, reagiert ihr Körper wie eingefroren. Der Film „Ida“ von Pawel Pawlikowski beschreibt die Suche zweier Frauen nach ihrer Identität und erzählt von einer tief vergrabenen grausamen Wahrheit – in der das Erscheinen einer Einzelnen das erzwungene Vergessen anderer Menschen zum Vorschein bringt.

Eigentlich fühlt sich Ida nicht mit den Juden verbunden – als Waisenkind ist sie asketisch bei den katholischen Nonnen aufgewachsen und steht kurz vor ihrem Gelübde zur katholischen Klosterfrau. Ihr Weltbild ist dem Kloster entsprungen und steht im Kontrast zum Leben ihrer Tante Wanda, der einzigen Verwandten, die sie widerwillig kennen lernt auf der Suche nach ihren Eltern. Durch Wanda lernt sie die weltliche Wirklichkeit kennen und beginnt an ihrer geistlichen Berufung zu zweifeln. Anfangs erscheinen die Figuren etwas schablonenhaft; auf der einen Seite die trinkende, rauchende und dominante (ehemalige) Richterin, auf der anderen die stille, nachdenkliche Nonne. Später gewinnt die Darstellung an Tiefe. Gemeinsamkeiten stellen sich ein und gehen über die Einsamkeit, die jüdischen Wurzeln und ihre Verwandtschaft hinaus. Beide verbindet der jeweilige Glaube, dem sie ihr Leben, ihre individuellen Wünsche, opfern. Der Kommunismus im stalinistischen Zeitalter dem die „blutige“ Wanda ihr Leben widmete, für den sie sogar ihre Familie verließ, wirkte für sie wie eine Religion.

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Auf zahlreichen internationalen Festivals ausgezeichnet, wird der Film auf dem diesjährigen Berliner Festival „filmpolska“ in der Sparte „Neues polnisches Kino“ gezeigt und als „eine Hommage an das polnische Kino der Nachkriegszeit“ angekündigt. Diese Bezeichnung hat der Film seinem 4:3 Format und seiner Entschleunigung in sanften Grautönen zu verdanken. Seine ästhetische Form erinnert an alte analoge Schwarz-Weiß-Fotografien; die statische Kameraführung erzeugt stille Momentaufnahmen und legt damit viele Leerstellen offen. „Ida“ erzählt vom Ungesagten und Ungezeigten und nicht zuletzt von der Wichtigkeit eines einzelnen Menschenlebens in der kollektiven Geschichte.

In der polnischen gegenwärtigen Presse löst „Ida“ eine kontroverse und polemische Debatte über die historische Schuldfrage im Holocaust sowie den aktuellen Antisemitismus in Polen aus. Der Film wird reduziert auf die Darstellung der polnischen Täterrolle im Holocaust. Er ist aber kein politisches Spiegelbild der heutigen polnischen Gesellschaft, auch ist er keine historische Abrechnung mit dem polnischen Antisemitismus der Nachkriegszeit. Er spielt Anfang der 60er Jahre im sozialistischen Polen, mit alten Schallplattenspielern, russischer Musik im Autoradio und einer grausamen Wahrheit – die sich tief im Wald verbirgt. Der Regisseur kreierte einen Blickwinkel auf einen Umgang mit Antisemitismus, der nicht in der heutigen Zeit verortet werden darf. Der Fokus liegt auf dem Leben eines jungen Mädchens in den 60er Jahren, das ihren Lebensweg in dieser verwobenen Geschichte finden möchte. Die Holocaustthematik ist lediglich „eingebettet“, die Bildsprache passt sich Idas Gegenwart an und rückt ihre Wandlung in den Vordergrund. „Ida“ erzählt von der Suche nach der Identität, einem eigenem Weg im Leben, in Relation zur Gesellschaft. Die Titelheldin steht sinnbildlich für die Immunität gegen das kollektive Vergessen. Zum Schluss fragt die junge Protagonistin „Co potem?“ (was kommt danach?) und bekommt zur Antwort: „das Leben selbst“.

 

Text:  Oliwia Blender

 

IDA

PL 2013; R: Pawel Pawlikowski; 80 Min

B: Rebecca Lenkiewicz, K: Lukasz Zal, Ryszard Lenczewski, D: Agata Trzebuchowska, Agata Kulesza, Joanna Kulig, Dawid Ogrodnik u.a.

 

 

Wer ist Jaime und wo ist er eigentlich?

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Familienunglück, Teenagernöte, Probleme eines Fischmenschen: unterschiedlicher hätten die drei Kurzfilme der Rubrik „Best of Shorts I“ des filmPolska-Festivals nicht sein können. Im poppigen „Psubrat“ (Schweinehund) von Maria Zbąska beobachtet und kommentiert ein leicht überforderter Teenager das festgefahrene Familienleben und die erste Liebe seines großen Bruders. „Ziegenort“ von Tomasz Popakul dagegen ist ein schwarz-weißer Animationsfilm über einen Jungen, der, halb Fisch, halb Mensch, immer wieder am zwischenmenschlichem Kontakt verzweifelt.

Der Headliner der Rubrik, „La Isla“ (Die Insel), feierte an diesem Abend im Ackerstadtpalast seine Deutschlandpremiere. Vor der „Langsamkeit“ des Films, der als Zusammenarbeit der Regisseurinnen Katarzina Klimkiewicz und Dominga Sotomayor vom dänischen Filmfestival CPH:DOX in Auftrag gegeben wurde, warnte Co-Regisseurin Katarzina Klimkiewicz persönlich vor der Vorführung. Tatsächlich lässt das polnisch-chilenische Regie-Duo den Bildern und den Figuren in der halben Stunde des Kurzfilms viel Zeit. „La Isla“ erzählt kaum merkbar seine Geschichte, einige Szenen wirken fast dokumentarisch. Die Kamera verfolgt die Geschichte nicht, sie lässt sie zu sich kommen. Behutsam wird eine Familie porträtiert, die ihren Urlaub im Ferienhaus auf einer Insel gemeinsam verbringt. Genauso langsam und behutsam wie in „La Isla“ die Bilder eingefangen werden, erzählt der Film von den wunden Stellen der Familie, die sich auftun, als sich alle immer wieder fragen: „Wo ist eigentlich Jaime, wann kommt er endlich an?“ Wer direkt am Anfang von „La Isla“ aufmerksam hingesehen hat, weiß: Jaime kommt überhaupt nicht, er hatte einen Autounfall. Von der ersten Minute bis zum Ende des Films hält „La Isla“ die Spannung zwischen dem Unfall und der unwissenden Familie.

Inspiration für den Film, dessen Szenen die beiden Regisseurinnen abwechselnd filmten, war laut Katarzina Klimkiewicz das Gedicht „Road Accident“ (Verkehrsunfall) von Wisława Szymborksa, das genau die Geschichte von „La Isla“ erzählt: „Wir haben versucht, die Stimmung des Gedichts einzufangen. Diese unschuldige Familie, die nichts von der eigenen Tragödie ahnt.“ Die Bedrohlichkeit der Situation taucht immer wieder als unheimliche Stimmung in den Einstellungen auf – die Kamera, die über nebelverhangenes Wasser gleitet, der Ton, der plötzlich bis auf ein dumpfes Klingeln im Ohr vollständig gedämpft wird. Die unheimlichen Elemente von „La Isla“ sind auch der tatsächlichen Insel geschuldet, auf der der Film gedreht wurde, sagte Katarzina Klimkiewicz nach der Vorführung. Es ist die chilenische Insel, auf der ihre Co-Regisseurin Dominga Sotomayor selbst Kindheitsurlaube verbracht hat, und die wegen ihrer mystischen Atmosphäre sehr beliebt ist.

Der Film endet und verlässt diese Insel genau in dem Moment, in dem Familie vom Tod Jaimes erfährt. Wir bleiben mit der Frage zurück, welche der angedeuteten Wunden wohl nun ganz aufreißen.

 

 

Text: Gila Hofmann

 

La Isla / TheIsland

PL/CH/DK 2013; R: Dominga Sotomayor; Katarzyna Klimkiewicz; 30 min; OmeU

 

Psubrat /Schweinehund

PL 2013; R: Maria Zbąska; 30 min; OmeU

 

Ziegenort

PL 2013; R: Tomasz Popakul; 30 min; Animationsfilm; OmeU



PortretPolonia

 

Das Kurzfilmprogramm „Portret Polonia“ schildert das Leben polnischer Migranten in Deutschland. Die Beiträge erzählen von Hoffnungen, der Auseinandersetzung mit Vorurteilen sowie der Ambivalenz zwischen Anpassung und Bewahrung der polnischen Identität.

Die Filmreihe eröffnete „das ist polen“ („To Jest Polska“), eine 23-minütige Produktion von Filip Jacobson, Jutta Riedel, Mirek Balonis und Angelika Herta. Satirisch wird von Mirosław Balonis (Mirek Balonis) erzählt, einem vorbildlichen polnischen Geschäftsmann, der als „Migrant des Jahres 2013“ ausgezeichnet wird. Herr Balonis entpuppt sich als würdiger Träger des Migranten-Preises und als emsiger Förderer deutsch-polnischer Beziehungen. Es ist die Erfolgsstory eines tüchtigen, ideenreichen, attraktiven Mannes im besten Alter – und alles ganz legal.

Zu Beginn übersieht man leicht den pseudo-dokumentarischen Charakter des Films. Zunehmende Skurrilität entlarvt jedoch die Fiktion. Vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsdebatten wird in dieser Pseudo-Doku ein sensibles und aktuelles Thema humoristisch behandelt.

Seweryn Żelazny befragt in seinem 5-minütigen Film „3Fragen- Generationen“ („3Pytania-Pokolenia“) Frauen aus vier Generationen. Ihre Gesichter erscheinen wie schwarz-weiße Passfotos, die jeden Moment anfangen werden ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Und so geschieht es auch.

Die älteste Weronika, die auf Polnisch antwortet, ihre Tochter Katarzyna, bei der ein leichter polnischer Akzent zu erkennen ist und ihre Enkelin Anna und Urenkelin Zoe, die bereits akzentfrei Deutsch sprechen. Es ist ein subtiler und diskreter Beitrag, der dazu auffordert,  genau hinzuhören, vor allem auch auf das Nichtgesagte.

In „Die Sonne in meinem Fernseher“ („Słońce w mym telewizorze“) schildert Jan Walentek das Leben von Markus S., der eines Tages mit seiner Familie aus dem kommunistischen Polen flieht. Der Westen scheint „cooler“ zu sein. Nach der geheimen Flucht, landet die Familie in dem Land, wo Milch und Honig fließen. Hier gibt es Aldi, Obi und C&A, was will man mehr?

Der experimentelle Dokumentarfilm schildert den Alltag einer Migrantenfamilie in Deutschland. Dabei geht Walentek spielerisch mit Klischees um. Aus dem Off hört man Markus S. von seinem Leben in der ehemaligen Volksrepublik Polen und den Anfängen in der neuen Heimat sprechen. Fotografien aus seiner Kindheit oder kurze Videoaufnahmen werden eingeblendet. Absurde Werbesprüche oder Logos unterstreichen den ironischen Charakter seiner Erzählungen. Der Film ist ein Portrait eines Mannes, der mit viel Distanz und Humor auf die Vergangenheit zurück- und mit Gelassenheit der Zukunft entgegenblickt.

 

Text: Paulina Dudys

DAS IST POLEN/ TO JEST POLSKA

D 2013; 23min; R: JAMFcuts

 

3FRAGEN- GENERATIONEN/3PYTANIA- POKOLENIA

D 2013; 5min; R: Seweryn Żelazny

 

DIE SONNE IN MEINEM FERNSEHER/SŁOŃCE W MYM TELEWIZORZE

D 2013; 27min; R: Jan Walentek

http://vimeo.com/84539598


 

 

Filmische Impressionen des polnischen Lebens in Deutschland

 

Der „AckerStadtPalast“, der durch einen Hinterhof, in dem sich zusammengewürfelte Sitzgelegenheiten, eine riesige Kastanie und ein alter Schuppen, dessen Dach auch noch als Lagerraum dient, betreten wird, wirkt zwischen sanierten Altbauten und hippen Geschäften wie eine Insel im Meer von Mitte. Hier, in einem kleinen Kinosaal mit Holzbänken, wird also das „polnische Leben in Deutschland“ anhand von vier Kurzfilmen gezeigt. Sie sind sozusagen ein Best-of des Kurzfilmwettbewerbs „Portret}Polonia“, der im ostbrandenburgischen Schloss Trebnitz stattfand und sich zum Ziel gesetzt hat, die Vielfalt polnischer Migranten in Deutschland zu umreißen. Der erste Eindruck ist vielversprechend.

Aber wie das halt so ist, spielt die Technik zu Beginn nicht mit. Der erste Kurzfilm „Das ist Polen“ / „To jest Polska“ von „JAMFcuts“ (Mirosław Balonis, Angelika Herta, Filip Jacobson) wird anfangs in erhöhter Geschwindigkeit und zu laut abgespielt – wobei manch einer behaupten könnte, das sei doch normal bei der polnischen Sprache. Als es auch nach dem 3. Versuch noch nicht richtig funktioniert, wird eine Pause eingelegt, um den technischen Fehler zu beheben. Mit 45 Minuten Verspätung fängt die Vorstellung endlich an. Man kann sich bei diesem Film nicht sicher sein, was nun ernst gemeint ist, was ironisch: die Grenzen zwischen Klischee und Realität verschwimmen fortlaufend. Mit viel Humor und Ironie erzählt Mirosław Balonis, der „Migrant des Jahres 2013“, von seinem Leben in Deutschland. Zum Geschäftsmann hat er sich durchs Monopoly Spielen ausgebildet, als Vermittler zwischen Polen und Deutschen bringt er polnische Priester in deutsche Gottesdienste. Was von dem stimmt, das hier erzählt wird, bleibt dem Zuschauer überlassen. Deutlich wird jedoch, dass Stereotype auf die Schippe genommen werden.

„3Fragen – Generationen“ / „3Pytania – Pokolenia“ von Seweryn Żelazny ist dagegen ein ruhiger, nachdenklicher Film, der fünf Minuten lang nebeneinander die Gesichter von vier Frauen unterschiedlicher Generationen zeigt, denen je drei grundlegende Fragen über ihr Leben gestellt werden. Man sieht sie nicht sprechen, sondern hört nur ihre Antworten; am Anfang durcheinander, im zweiten Teil nach Alter geordnet. Ihre Antworten hätten von Frauen jeder Nationalität stammen können, was zeigt, dass unabhängig von der Herkunft die Wünsche der Menschen recht ähnlich zu sein scheinen.

Der Protagonist des Films „„Die Sonne in meinem Fernseher“ / „Słońce w mym telewizorze” von Jan Walentek zog nach Deutschland, nachdem er hörte, dass es im Westen doch „ganz cool“ sei. Im Film sieht man ihn nur in Aufnahmen aus seinem persönlichen Archiv. Erstaunliche Bildmontagen illustrieren seinen Lebensweg, mal ernst, mal amüsant oder ironisch, während er seine Geschichte erzählt. Trotz aller Strapazen, die sein Leben in Deutschland mit sich bringen, bewahrt er sich immer eine positive Sicht auf die Dinge und scheint stets glücklich über das zu sein, was er hat und tut. Eine inspirierende Geschichte, die fast darüber hinwegtröstet, dass der 40-minütige vierte Film, „Europa Endlos“ / „Europa bez końca” von Anna Maria Rożnowska aufgrund von Zeitmangel zwei Stunden nach hinten verlegt und deshalb leider nicht mehr von mir gesehen werden konnte.

 

Termin: 24.04.2014

Das ist Polen / To jest Polska, D 2013, 23 min, OmpU/OmdU; R: JAMFcuts

3Fragen – Generationen / 3Pytania –Pokolenia, D 2013, 5 min, OmeU; R: Seweryn  Żelazny

Die Sonne in meinem Fernseher / Słońcew mym telewizorze, D 2013, 27 min, OmdU, R: Jan Walentek

Europa Endlos / Europa Bez Końca, D 2013, 40 min, OmdU, R: Anna Mara Rożnowska

 

Text: Agata Czamanska

 

 

 

Ein bildstarker Festivalauftakt

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Mit dem Film „Papusza“, zu deutsch „Puppe“, von Joanna Kos-Krauze und Krzysztof Krauze wurde die neunte Ausgabe des Festivals „FilmPolska“ im Babylon eröffnet. Der Film macht Lust auf das polnische Kino und ist ein gutes Beispiel dafür, wieso es sich lohnt, diesem etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Während neben dem roten Teppich am Eingang des Babylon noch die letzten Interviews gegeben werden, warten die Festivalbesucher schon vor den Türen des Kinosaals. Von allen Seiten her kann deutsch, polnisch und englisch vernommen werden. Es ist voll an diesem Abend und nicht selten kommt es vor, dass die Leute einander anrempeln. Die Stimmung ist gespannt. In charmant-amüsanten kleinen Reden wird wenig später im Kinosaal auf die Bedeutung des Festivals hingewiesen. FilmPolska biete die Möglichkeit, nicht nur einen einzigartigen Einblick in das zeitgenössische polnische Filmschaffen, sondern auch in den polnischen Alltag zu bekommen.

Nach vielen obligatorischen Danksagungen tritt Jowita Budnik, die Hauptdarstellerin von „Papusza“, vor das Publikum. Schüchtern hält sie das Mikrofon in beiden Händen, sagt zwei Sätze und erklärt das Festival für eröffnet. Viel Vorrede braucht der Film „Papusza“ auch nicht, da seine Bilder für sich sprechen.

Der Film erzählt von Papusza, der ersten Roma-Poetin. Die Geschichte ihres Lebens in einer Roma-Gemeinschaft, die sie später als Verräterin ausschließt. Der eigentliche Verräter ist jedoch der Schriftsteller, Dichter und Übersetzer Papuszas Werk, Jerzy Ficowski, der zwei Jahre lang unter den Roma gelebt, ihre Sitten kennengelernt und  ihre Sprache gelernt hat. In seinem Buch veröffentlicht er nicht nur Papuszas Werke, sondern auch, ohne gefragt zu haben, eine Darstellung des Lebens der Roma, die sich von der Öffentlichkeit, die sie drangsaliert, abschotten und ihre Geheimnisse für sich bewahren wollen.

Papuszas Werke erzählen von der Liebe zu und der Sehnsucht nach dem gemeinschaftlichen Reisen der Roma in der Natur. Diese Sehnsucht spiegelt sich in den schwarz-weiß gehaltenen filmischen Landschaftsbildern reichlich wider; sie sind statisch, ohne Kamerabewegung, denn das Abgebildete bewegt sich selbst schon genug: die Landschaft, durch die sich der Tross der Roma bewegt, erwacht für den Zuschauer zum Leben, ist zum Greifen nah und doch nicht erreichbar. Der Zug durchquert die Landschaft in aller Ruhe, durchdringt sie, sowie sie wiederum auch die Zugmitglieder durchdringt, während die Kamera regungslos beobachtet. Die Bilder stellen die Poesie dar, die sich in Papuszas Gedichten findet, die versuchen, Natur und Wanderungen in Worte zu fassen.

In drei Zeitsträngen wird Papuszas Geschichte erzählt. In ihrer Kindheit zieht sie mit einem Orchester umher und lernt gegen den Willen der anderen Roma lesen und schreiben. In den dreißiger Jahren verschlechtert sich die Situation der Gemeinschaft durch zunehmende Ignoranz durch die Menschen und die Regierung, bis sie während der Romaverfolgung durch die Nazis katatstrophal wird.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird den Roma in Polen das Umherziehen verboten und sie werden zur Sesshaftigkeit gezwungen.

Nicht nur den Bildern, sondern auch der Musik wird in 131 Minuten die Zeit gegeben, ihre Wirkung voll zu entfalten. Die Musik hat einen ganz besonderen Stellenwert: sie drückt zugleich Freude und Melancholie und das tragische Ende einer Ära aus. Die Blätter, sowohl die von den Bäumen als auch die zum Schreiben, scheinen zu Papusza zu sprechen, wenn Wind und Feuer Worte zu ihr tragen. Musikalisch wird eine Verzweiflung ausgedrückt, der Papusza am Ende auch verfällt: ausgeschlossen von der Roma-Gemeinschaft, getrennt von ihrem geliebten Wald und den Reisen durch das Land, verweigert sie sich schließlich der Dichtung und ist vollends zwischen zwei Welten gefangen: der einen, die sie im Herzen nie verlassen hat, und der anderen, in der sie nie richtig angekommen und sesshaft geworden ist.

 

Text: Agata Czamanska

 

PL 2013; R/B: Joanna Kos-Krauze, Krzysztof Krauze; 131 min; OmdU; K: Krzysztof Ptak, Wojciech Staroń; D: Jowita Budnik, Zbigniew Waleryś, Antoni Pawlicki, Artur Steranke u.a.

 

Tagebuch

Festivaltagebuch, Freitag und Samstag

Wie Tag und Nacht – Das Wochenende beim filmPOLSKA

Freitag, 25. April 2014 – Kino Arsenal am Potsdamer Platz

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Nachdem am Donnerstag Schwimmende Wolkenkratzer zu sehen war, steht mit Das Geheimnis (Sekret, 2013) heute der zweite Film auf dem Programm, bei dem Jakub Kijowski hinter der Kamera stand. Da diesmal ein Übersetzer fehlt, springt spontan eine Dame aus dem Publikum beim Gespräch mit dem jungen polnischen Kameramann ein. Der steht gewohnt schüchtern, aber höchst sympathisch Rede und Antwort.

In Das Geheimnis besucht die Drag-Queen Ksawery mit einer jüdischen Freundin den Großvater. Der hütet ein mörderisches Geheimnis aus der Zeit des Holocaust. Ungesühnte Schuld, verdrängte Gefühle, Unterbewusstes und Unausgesprochenes, das unter der Oberfläche brodelt und immer wieder zu emotionalen Entladungen zwischen den Dreien führt. Thematisch kommt Das Geheimnis schwer daher. Nach vier Tagen filmPOLSKA und etlichen Publikumsgesprächen übernehme ich deren Konsens, solch eine pessimistische Grundstimmung sei typisch für den polnischen Film. Und weil Schubladen manchmal so schön sind. Seine Zugehörigkeit zum Arthouse-Kino mit Hang zum Experimentalfilm macht seine Rezeption nicht unbedingt angenehmer.

Da kommt die Festivalparty doch gerade recht, um die Kontroversen des Films bei einem Glas Wein und sommerlichen Temperaturen im wunderschönen Innenhof des AckerStadtPalasts zu diskutieren.

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Ganz anders dann: Das Mädchen aus dem Schrank (Dziewczyna z szafy, 2014). Schon die lockere Art  des Regisseurs Bodo Kox  lässt auf filmische Unterhaltung hoffen. Wie Przemysław Wojcieszek in Das Geheimnis bedient sich Kox in seiner bisher größten Kino-Produktion ebenso häufig filmischer Kunstgriffe. Doch anstatt lehrbuchhafter Schwerfälligkeit zu liefern, gelingt es ihm spielerisch die Faszination des frühen Kinos für exotische Orte und magische Welten in uns zu wecken.

 

Jacek lebt zusammen mit seinem autistischen Bruder Tomek. Der sieht Zeppeline am Himmel fliegen und verliebt sich in die stille Magda, die ein nicht weniger merkwürdiges Sozialverhalten an den Tag legt. Rauchend zieht sie sich stundenlang in ihren Schrank zurück, wo eine subtropische Welt mit weißem Hasen auf sie wartet. Beide verstehen sich sofort auch ohne Worte. Anstatt Behinderung als Problem in Szene zu setzen, wird sie in Das Mädchen aus dem Schrank als schrullige Charaktereigenschaft akzeptiert. Für den Zuschauer bedeutet das jede Menge Situationskomik und schwarzen Humor gepaart mit einer Prise Gesellschaftskritik. Die Achtung vor seinen Figuren verliert der Film dabei jedoch nie. Für mich, der beste Film des Festivals bis hier hin.

Mit seiner Hauptdarstellerin Magdalena Różańska wird in dem anschließenden Gespräch dann angeregt zwischen Polnisch, Deutsch, Englisch und Französisch hin- und hergewechselt. Mit Bodo Kox, der im Gespräch mindestens genauso humorvoll und unterhaltsam ist wie sein Film, gibt es am Sonntag noch einmal die Gelegenheit im Club der Polnischen Versager seine früheren Underground-Produktionen zu sehen und über das Off-Kino zu plaudern.

 

Text: Nina Linkel

 

 

 

PL 2012; Regie/Drehbuch: Przemysław Wojcieszek

Kamera: Jakub Kijowski

Darsteller: Agnieszka PodsiadlikTomasz TyndykMarek Kępiński

 

Das Mädchen aus dem Schrank (Dziewczynaz szafy)

PL 2012; Regie/Drehbuch: Bodo Kox; Kamera: Arkadiusz Tomiak

Darsteller: Magdalena Różańska, Piotr Głowacki, Wojciech MecwaldowskiEryk Lubos

 

 

Zum Scheitern verurteilt

 

Potsdamer Platz:Zweiter filmPOLSKA-Tag, Kino Arsenal

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Mit „Schwimmende Wolkenkratzer“ („Plynace wiezowce“) von Tomasz Wasilewski wird heute eines der Highlights des diesjährigen Festivals gezeigt, ein Film über Selbstfindung, Liebe und Verdrängung.Leistungsschwimmer Kuba ist mit Sylwia zusammen und lebt mit ihr bei seiner Mutter Ewa. Alles zerrt an Kuba, der Sport, die Freundin, die Mutter. Dann verliebt er sich in Michal. Michal verliebt sich in ihn. Eine weitere Dreiecksbeziehung entsteht: Kuba, Michal und Sylwia. Man ahnt, das wird nicht gut gehen.

Tomasz Wasilewski hat mehr als einen Coming-Out Film gedreht. Den Film nur in diese Kategorie zu stecken, wird ihm aber nicht gerecht. „Der Film ist ein Psychodrama mit Coming-Out.“, sagt Kameramann Jakub Kijowski beim Publikumsgesrpräch nach der Vorführung.
Kurz bevor im Kino das Licht wieder angeht, fällt ein Name in den Credits auf: Katarzyna Roslaniec. Hier spielt sie nur eine kleine Nebenrolle, doch eigentlich ist sie ein großes Regietalent. Mit „Shopping Girls“ und „Bejbie Blues“ hat sie sich international darunter auch Berlinale und filmPOLSKA einen Namen gemacht.
Kameramann Kijowski, Anfang 30, ist schüchtern vor dem Publikum im Arsenal. Eigentlich braucht er es nicht sein, der Saal ist mit knapp 30 Leuten nur spärlich besetzt. Auf dem Festival wird er sich solchen Gesprächen noch öfter stellen müssen. Für das „Das Geheimnis“ stand er auch hinter der Kamera. In „Schwimmende Wolkenkratzer“ hat Kijowski herausragende Arbeit geleistet. Seine Bilder, größtenteils Nachtaufnahmen, schaffen es, die graue Betonarchitektur Warschaus zum Leben zu erwecken. Kamerafahrten durch Tunnel und Parkhäuser sind Momentaufnahmen von Urbanität. Sie sind poetisch, mal traurig, mal radikal entblößend.

Im Foyer des Arsenals warten gefüllte Weingläser auf die Festivalbesucher. Sie haben die Wahl: Nach Hause gehen, Wein trinken oder eine thematische 180° Wende machen und in „Fuck for Forest“ im FSK gehen. Die meisten bleiben beim Wein.

 

Trailer

 

Text: Laura Varriale



„Kino ist Mut. Kino ist Kultur“
 
Kurator Kornel Miglus
Fotograf: Jakub Swietlik

 

 

 

9. Ausgabe –  9 Tage – 9 Spielstätten
2014 geht das Festival FilmPOLSKA bereits in seine neunte Runde. Veranstaltet vom polnischen Institut Berlin, zeigt es einen Querschnitt durch die nationale Kinolandschaft. Neben einer Kurz- und Dokumentarfilmreihe setzt das vielfältige Programm vor allem Akzente auf zeitgenössischen polnischen Autorenfilm sowie Kamerakunst im Rahmen einer Werkschau der beiden Kameramänner Jacek Petrycki und Jakub Kijowski. Neben einer Retrospektive der Literaturverfilmungen der Werke von Stanislaw Lem bietet das Festival auch eine Plattform für junge Werke nationaler Filmhochschulen, nationales Off-Kino sowie Animation.
 
Fotograf: Jakub Swietlik
Minderheit – Musik – Meister
Eröffnet wurde das Festival am Mittwochabend  im Babylon mit dem Arthouse-Film des Regisseur-Duos Joanna Kos-Krauze und Krzysztof KrauzeEmblematisch für den diesjährigen thematischen Schwerpunkt, der neben „Musik“ und „Meister der Film- und Erzählkunst“ auf „Minderheiten“ liegt, erzählt Papusza (Puppe) vom Leben der gleichnamigen Roma-Poetin, die aufgrund der Publikation ihrer Werke von ihrer Sippe ausgeschlossen wird. In Zeitsprüngen und ausgehend von ihrer Biografie gibt der Film darüber hinaus einen Abriss der Geschichte des 20. Jahrhunderts der polnischen Roma. In Zusammenhang mit narrativen Auf- und Abblenden und ästhetisierenden Schwarz-Weiß Bildern reflektiert er auch formal über Fiktionalisierungsprozesse nationaler Geschichtsschreibung. Panoramaeinstellungen der endlosen Weite polnischer Landschaft evozieren eine vermeintliche Freiheit des fahrenden Lebensstils. Diese steht nicht nur im Kontrast zur räumlichen Enge ihrer späteren Behausungen, die ihnen von der Regierung aufgezwungen werden, sondern auch zum restriktiven traditionellen Gemeinschaftsleben.
 
Die Stärke des Films bleibt seine Universalität: Eine kluge Frau scheitert an den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit. Ein feinfühlig-künstlerisch erzählter Film, der Lust macht auf die folgenden Tage polnischer Kultur auf der Leinwand.

 

 

(Text: Nina Linkel)