Big Sister is Watching You

Der Debütfilm Tower. A Bright Day von Jagoda Szelc ist ein Familiendrama der anderen Art. Es wird mit Schnitt und Ton experimentiert, sodass eine verstörend bedrückende Atmosphäre entsteht.

Vogelperspektive. Wir folgen einem Auto aus der Stadt in die Natur. Die leere Landstraße zerteilt das Kornfeld in zwei Teile. Ein starkes Bild am Anfang, dazu ein dumpfer Sound von Bass. Unangenehm, laut, aufdringlich – das geht nicht nur unter die Haut, sondern bis in die Knochen. Die Landschaft verändert sich – Wald. Aus der Totalen hinaus geht es immer näher zum Auto hin und letztendlich in dieses hinein. Der Sound bricht ab. Das Auto ist angekommen am Ort des Kammerspiels.

Andrzej und Kaja besuchen ihre Schwester Mula zur Erstkommunion der Tochter Nina. Eine erste Begegnung seit langer Zeit. Kaja war die letzten sechs Jahre abwesend. Sie und Mula umarmen sich daher lange, bevor Mula ihre entfremdete Schwester Kaja beiseite nimmt und ihr die „Spielregeln“ für die nächsten Tage erklärt, die sie bis zur Kommunion von Nina zusammen verbringen werden: „Du wirst Nina nicht sagen, dass du ihre Mutter bist. Du wirst dich nicht mir ihr alleine aufhalten. Verhalte dich normal. Du wirst nicht sagen, wo du die letzten sechs Jahre warst.“ Die Idylle ist von Anfang an gestört, was nicht verwundert. Die dumpfen Töne haben uns skeptisch gemacht, der Regelkatalog öffnet die Büchse der Pandora.

So mystisch wie das klingt, so unheimlich ist es auch. Immer wieder gibt es Zwischensequenzen – unabhängig von der Geschichte – die Kaja von hinten zeigen, die Umgebungsgeräusche bis ins Unerträgliche gesteigert. Es wird hier bewusst mit dem Genre des (Psycho-)Thrillers gespielt. Die Kameraführung, die oft sehr nah bei den Figuren und insbesondere bei Mula ist, trägt ebenfalls dazu bei. Aber ist Kaja wirklich der Störfaktor? Für ihre Schwester, die wie ein Wachturm alles zu überblicken und zu kontrollieren versucht, zweifelsohne. Aber die Büchse der Pandora enthält bekanntlich nicht nur Übles, sondern auch die Hoffnung. Vielleicht ist Kaja einfach nur ein Symbol dafür, dass nicht alles perfekt sein kann. Veränderungen geschehen – ob wir wollen oder nicht.

So wie die Landstraße am Anfang die Kornfelder teilt, spaltet Kaja die Welt. Etwas bricht auseinander, es findet ein Schnitt statt. Den Turm gibt es nicht mehr, nur noch den hellen Tag. Eine Schlange schlängelt sich am ersten Tag der neuen Zeit gemächlich über den Boden. Ob wirklich eine biblische Konnotation dahintersteckt? Es bleibt offen. Wie das Ende. Wie der ganze Film. Bewusst. Wir sollen aufgewühlt sein, mit Emotionen und Fragen aus dem Kino gehen, nicht mit einer fertigen Story.

von Elisabeth Müller

Tower. A Bright Day: PL 2017, 106 Min., R: Jagoda Szelc

Das Leben – eine Maskerade

„Ich beginne, an Träume zu glauben. Ich ziehe einsam durch die Straßen. Schaue ich die anderen an, kehrst du zurück. Überall unvollendete Umarmungen, ersehnte Blicke. Ich fühle mich wie hin- und hergerissen. Lass mich in Ruhe.“ So ein Tagebucheintrag Michał Waszyńskis aus den 1960er Jahren. Doch wer war dieser Mann, der Anfang des 20. Jahrhunderts im damaligen Wolhynien geboren wurde und 1965 als polnischer „Prinz“ in Italien starb?

Der neue Dokumentarfilm Der Prinz und der Dybbuk von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski geht dieser Frage auf den Grund – feinfühlig, kunstvoll, collagenhaft. Nach und nach wird ein Porträt Waszyńskis entworfen, dessen Spuren in die Ukraine, nach Polen, Israel, Italien, Spanien und in die USA führen. Geboren als Mosche Waks, konvertierte Waszyński zum Katholizismus, als er Ende der 1920er nach Warschau ging. Die 1930er Jahre sollten seine produktivsten Jahre werden, zahlreiche Filme entstehen unter seiner Regie. So auch Der Dybbuk, der jiddische Mythos eines Geistes, der seine erste Liebe heimsucht. Wie bei Waszyński selbst. Er kann sich seiner Vergangenheit nicht entziehen, auch wenn er sich in Italien, wo er nach dem Zweiten Weltkrieg lebt und arbeitet, als polnischer Prinz ausgibt. Immer wieder vermischen sich Szenen aus dem Film mit dem dokumentarischen Material, auf Jiddisch gelesenen Passagen aus Wasyńskis Tagebucheinträgen und kunstvollen Licht- und Farbspielen.

Am Ende weiß man trotzdem nicht genau, wer Michał Waszyński war. Man erhält lediglich einen Eindruck über das Leben dieses Mannes, bekommt eine Idee von dem, was ihn auszeichnete und darüber, wer er gewesen sein könnte. Waszyńskis Maskenspiel war erfolgreich. Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski haben in Der Prinz und der Dybbuk versucht hinter diese Masken zu schauen und das Wesen ihres Protagonisten zu ergründen. Auch wenn hier kein geschlossenes Bild entstanden ist, stellt der Film dennoch einen wichtigen filmischen Beitrag über einen einzigartigen Menschen dar.

von Elisabeth Müller

Der Prinz und der Dybbuk: PL/D 2017, 82 Min., R: Elwira Niewiera, Piotr Rosołowski