Film ohne Gedankenstrich

Eine Vorahnung. Eine Landstraße. Ein Auto. Eine Familie. Eine Frau. Ein heller Tag.

Sie sitzt auf der Rückbank. Zwischen den Kindern. Sie schaut durch die zwei Erwachsenen vor ihr. Sie ist weder Kind noch Erwachsene. Sie ist Kaja. Sie kommt nach langer Zeit wieder und wird etwas verändern.

Ein Waldweg. Ein Haus. Zwei Augen. Blick in den Himmel. Eine zweite Frau. Ein Turm.

Das Auto biegt auf das Grundstück ein. Die Türen gehen auf. Kaja steigt aus. Mula erwartet sie schon. Mula und Kaja. Die Schwestern umarmen sich. Mula hat alles vorbereitet. Sie will nicht, dass etwas passiert.

Tower.ABrightDay-Still-See im Wald

(c) Indeks Film Studio

Die Kamera hält auf Kaja und auf Mula. Und auf irgendetwas, das die beiden verbindet und voneinander trennt. Es entfachen sich Streits, doch werden durch Umarmungen wieder fallen gelassen. Mula ist angespannt. Die ganze Zeit. Kaja lächelt sie an. Die ganze Zeit.

Zwischen Bässen und Vogelgezwitscher beginnt der Tag. Der Wind kündigt sich an, er rauscht am Morgen. Mula ist schon auf, um zu schauen, ob alles und alle an ihrem Platz sind. Irgendetwas beängstigt sie. Wo ist Taxi? Ihr Hund. Verschwunden eines Nachts im Dickicht der grünen Wälder.

Tower. A Bright Day. ist ein Kammerspiel im trügerischen Landidyll. Ein Wiedersehen nach sechs Jahren. Man begreift nicht warum, aber freut sich mit den Figuren. Dann Angst. Als würde sich etwas in diese scheinbar heile Welt drängen. Als wäre Kajas Rückkehr eine Bedrohung. Handys vibrieren. Bienen summen. Aber beides zusammen klingt unheimlich.

Das Debüt von Jagoda Szelc hinterlässt uns mit Fragen. Ein 106 minütiges Abrollen ohne Gedankenstrich.

von Paula Sawatzki

Tower. A Bright Day: PL 2017, 106 Min., R: Jagoda Szelc

 

Keine Fragezeichen grade biegen

„Es ist eben nicht gleichgültig, ob eine Person lebt oder tot ist, wenn man über sie einen Film dreht“, sagt Elwira Niewiera auf der Eröffnung der 13. Ausgabe des 7- tägigen polnischen Filmfestivals filmPOLSKA am Mittwochabend im Babylon Kino am Rosa-Luxemburg-Platz. Sie wird ihren Film Der Prinz und der Dybbuk zeigen, den sie zusammen mit Co-Regisseur Piotr Rosołowski gedreht hat: Ein Biopic der suchenden Art, nach Wahrheiten und Antworten. Eine fragmentarische Auseinandersetzung mit dem Leben eines Menschen, der nicht in die Vergangenheit zurückkehren wollte, weil er es nicht konnte. Die Deutschlandpremiere des Filmes setzt an diesem ersten Festivalabend ein Zeichen gegen das Vergessen. Der Prinz und der Dybbuk hilft dabei auch zum Verständnis über eine komplizierte Identität beizutragen, über die Protagonist Michał Waszyński Zeit seines Lebens selbst nie sprechen konnte.

Der Festivalabend wird neben der Ehrung des Filmproduzenten und Shoa-Überlebenden Artur Brauner begleitet von der Aktion „Kippa tragen“ gegen die gegenwärtige antisemitische Gewalt auf der Welt, vor allem aber in Berlin und dem Rest Deutschlands. Neben den Zuschauenden tragen sowohl Festivalkurator Kornel Miglus, als auch Elwira Niewiera an dem Abend die Kippa. Es ist die Gleichzeitigkeit von Festivalauftakt und Aktion, von einem filmischen Porträt und dem solidarisch gesetzten Zeichen gegen Antisemitismus und Ignoranz, die diesen Filmabend zu einem wichtigen kulturellen Ereignis während des Festivals macht.

Michał Waszyński war Filmemacher und Produzent und machte sich mit Filmen wie Der Unbekannte von San Marino (1947) einen Namen. Als „polnischer Prinz“ war er international bekannt, und widmete sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien und Spanien realen historischen Geschichten und Heldenlegenden. Seine private Vergangenheit vor dem Zweiten Weltkrieg verschwieg er oder verdrehte Fakten, als Regisseur drehte er in Polen mehr als ein Dutzend Filme. Der Prinz und der Dybbuk des Regieduos Niewiera und Rosołowski will genau davon erzählen. Hart sind die Schnitte zwischen Filmsequenzen aus Michał Waszyńskis eigenen Filmen zu Archivmaterial und neu gedrehten Szenen über den Filmemacher, rasch die Überleitung von Waszyńskis Nachkriegsgegenwart zu seiner vergessenen Vergangenheit.

Der Prinz und der Dybbuk ist auch eine Hommage an Michał Waszyńskis beinahe vergessenen Film Der Dybbuk (1937), eine Liebestragödie in jiddischer Sprache und gleichzeitig die Geschichte einer Legende. Nach Ausbruch des Krieges konvertierte Waszyński zum Katholizismus und schloss sich der Armee der polnischen Exilregierung an. Seine Familie überlebte den Krieg nicht, und eine Erinnerung an sie wurde kaum festgehalten. Nur ein Foto, das Waszyński mit seiner mutmaßlichen Mutter Cilia Waks zeigt, wird während der filmisch dokumentierten Recherche durchgereicht. Es landet unter Lupen, wird den auf der Parkbank sitzenden Babushki in der heutigen Ukraine gezeigt und findet schließlich auch seinen Weg unter einen Vergrößerungsbildschirm eines Zeitzeugen und Bekannten aus seiner damaligen polnischen Heimat Kowel.

„Sprytna życiowa“ wird mit Waszyński assoziiert – „Lebensweisheit“. Und doch transportiert die deutsche Übersetzung lang nicht den Klang des polnischen Wortes, dessen Artikulation durch die vielen Konsonanten nicht nur eine gewisse Schnelligkeit transportiert, sondern auch etwas Raffiniertes, manchmal auch Undurchschaubares.

Undurchschaubar ist auch die Figur des Dybbuks, die Erscheinung einer geliebten Person der Protagonistin. Während die Imagination des Mannes sich langsam auflöst, erklingen im Hintergrund Worte aus Waszyńskis Tagebuch. Die hier auf jiddisch artikulierten Zeilen enden oft mit Fragezeichen und geben Einblick in sein Denken und Fühlen zu dieser Zeit.

Was Niewiera und Rosołowski in Der Prinz und der Dybbuk filmisch schaffen, ist eine Verbindung von Einzelteilen zu einem großen Kunstwerk. Sie schaffen einen nicht aufhörenden Versuch, einige der biografischen Fragezeichen Waszyńskis grade zu biegen. Nicht alle Fragezeichen lassen sich jedoch zu Ausrufezeichen formen, was am Ende des Filmes deutlich wird. Manche bleiben, und das ist auch gut so. Sonst wären wir doch bei einer abgeschlossenen Gleichgültigkeit angekommen, wenn es letztlich keine Fragen mehr gibt und wir alles von einem Menschen zu wissen glauben.

von Paula Sawatzki

Der Prinz und der Dybbuk: PL/D 2017, 82 Min., R: Elwira Niewiera, Piotr Rosołowski

Die Hausfrau des Zeitreisenden

War das jetzt eigentlich Science-Fiction? Als ich aus dem Kino komme und Bodo Kox, den Regisseur von The Man with the Magic Box für ein Interview abfange, schwirrt mir diese Frage im Kopf herum, die mich während des Schauens beschäftigt hat. Sie wird mich auch nach dem Interview nicht loslassen. Nicht weil auch Bodo Kox mir keine eindeutige Antwort darauf geben kann, sondern weil Kategorisierungen für Filme besonders schwer sind, wenn sie zu einfach gesetzt sind.

The Man with the Magic Box spielt in Warschau 2030 und nutzt künstliche Intelligenzen und dystopische Zustände als Folie. Die Stadt befindet sich im Kriegszustand. Statt zwischenmenschlicher Kommunikation, haben wir es mit Virtual-Reality-Brillen und Isolation zu tun. Die Umgebung ist in ein kühles Blau getaucht und Androide beherrschen das Zukunftsbild. In dieser Welt taucht Adam aus der Vergangenheit auf. Sein Körper liegt angeschlossen an Geräte auf einem Tisch in einem Warschauer Wohnzimmer der 1960er Jahre.

Adam gelangt in ein Forschungslabor, wo er als Putzmann eingestellt wird und einen ID-Code auf den Rücken gedruckt bekommt. Dort trifft er auf Goria, die für dieses Forschungslabor arbeitet. Ihre Annäherung verläuft unrealistisch schnell, wird zum Hauptthema des Filmes. Die Absurditäten fügen sich so zu einem Paralleluniversum zusammen. Vergangenheit und Zukunft, die eng miteinander verwoben sind, werden hier von Adam und Goria verkörpert. Sie, eine vermeintlich schlagfertige Frau, die erst nur eine körperliche Beziehung will, und Adam, der sich etwas verwirrt und wortkarg an seine neue Umgebung anpasst und Goria seine Liebe schwört. Schnell sind sich beide einig, dass sie zusammengehören.

Für Bodo Kox ist dies hier sein Konzept von Science-Fiction: Wenn der Krieg ausbricht, Gebäude einstürzen, sich keiner mehr etwas zu sagen hat, und sogar die Androiden abstumpfen, hilft nur noch die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau – eine Erklärung, die ziemlich abgedroschen klingt. Das Rollenverhältnis der beiden Hauptprotagonist*innen schreit nicht nach einem Konzept, das für 2030 stehen könnte. Die Vergangenheit, aus der Adam kommt, färbt allmählich auf Gorias Verhalten und ihre Abhängigkeit zu ihm ab, sodass sie schließlich zu einer „traditionell“ agierenden Frau wird – sie wünscht sich Rendezvous, Rosen, Hochzeit. Zu ihrem extravaganten Kleidungsrepertoire gehört dann plötzlich ein Mantel mit Bärenohren, mit dem sie eher lächerlich als innovativ aussieht.

Am Ende wird das Ganze auf die Spitze getrieben: In Adams Vergangenheit gereist, erscheint Goria als Hausfrau der 1960er Jahre. Der Weg zurück zu einem konservativen Ursprung ist in Polen gerade in der aktuellen Debatte um Abtreibung und die Selbstbestimmung von Frauen eine schwierige Botschaft, vor allem wenn ein Film eine Zukunftsvision darstellen will. Gleichzeitig reiht sich The Man with the Magic Box in die Tradition von Blockbustern wie Blade Runner (2017) oder Elysium (2013) ein – eine Science-Fiction, die männlich konnotiert ist und kommerzielles, auf Tempo und Special Effects getrimmtes Kino bietet. Der Film nutzt das Potential nicht aus, das Science-Fiction aber durchaus haben könnte, eben nicht nur Frauen in neuen Rollen agieren zu lassen, sondern auch das Genre ernst zu nehmen. Science-Fiction schafft neue Realitäten, die in unsere gewohnten und verengten Vorstellungen von Welt eingreifen sollen. Andrei Tarkowskis Stalker von 1979 oder Christopher Nolans Inception sind Filme, die Science-Fiction auf ganz unterschiedliche Weise interessant definieren, sich künstlerisch ausprobieren und dabei neue Welten und aufrüttelnde Fragen auf die Leinwand bringen. Und wenn Bodo Kox auch eine geschlechterpolitische Dystopie statt einer fortschrittlichen Zukunftsvision entwerfen wollte, tritt seine Science-Fiction als Satire nicht genügend hervor.

von Paula Sawatzki

Foto: (c) Reel Suspects

The Man with the Magic Box: PL 2017, 103 Min, R: Bodo Kox